
von Richard Lindner
Ein wenig außerhalb des Bonner Stadtteils Duisdorf liegt der neue Duisdorfer Friedhof. Direkt hinter dem Eingang auf der rechten Seite befindet sich eine steinerne Stele auf einem steinernen Sockel. Hinter ihr liegen etwas durch eine Hecke und Bäume verdeckt die „privaten“ Gräber, markiert mit dem sowjetischen Stern. Drei auf der Stele angebrachte Metalltafeln informieren auf russisch und auf deutsch:

«Гражданам СССР погибшим в борьбе с фашизмом. 1941-1945. Здесь захоронены 102 советских гражданина.»
“Den im Kampf gegen den Faschismus gefallenen Sowjetbürgern zum ehrenden Gedenken. 1941-1945. Hier ruhen 102 Sowjetbürger“
Die lakonischen Inschriften hinterlassen ein Rätsel: Wer waren diese 102 Sowjetbürger? Wann und warum waren sie in Duisdorf? An was sind sie gestorben?
Das Projekt „Sowjetische Kriegsgräberstätten in Deutschland“ des Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst weist die hier beigesetzten als „96 Kriegsgefangene aus dem Stalag VI G“, das zwei Kilometer entfernt liegt „und Zwangsarbeiter“.1 Stalag ist die militärische Kurzform für Stammlager, die organisatorische Einheit der Wehrmacht zur Kontrolle der Kriegsgefangenen. Ihnen waren bis zu 70.000 Gefangene unterstellt, mit bis zu 53.000 Internierten gehörte Duisdorf/Hardtberg zu einem der größten im gesamten Deutschen Reich. Diese lebten zwar mehrheitlich in den Arbeitskommandos (AKD)2 auf umliegenden Bauernhöfen, in Fabriken oder an anderer Einsatzstelle, durchliefen allerdings mehrheitlich zumindest bei der Ankunft das KZ-artig bewachte Areal.
Der historische Ort – das Gebiet des Stalags – war lange öffentlich nicht zugänglich: Das ursprünglich 1937 von der Wehrmacht als Kaserne errichtete Gelände wurde seit 1955 wieder vom Bundesministerium der Verteidigung zu diesem Zwecke genutzt. Heute erinnert lediglich ein kleine und unscheinbare Gedenktafel an die Gräueltaten. Diese wurde erst 2005, auf Initiative von acht Schülern einer Beueler Gesamtschule gesetzt.3 Im Frühjahr 1944 waren hier alleine bis zu 21.000 sowjetische Kriegsgefangenen eingesperrt oder dem Lager zumindest in den AKDs unterstellt. Zeitzeugen werden sich später erinnern, dass es den sowjetischen Gefangenen mit Abstand am schlechtesten ging. „Sie waren eingesperrt wie Vieh und litten Hunger.“ Ihr Zustand war so schlecht, dass die anderen Gefangenen ihnen heimlich und nach Möglichkeit etwas von ihren Rationen abgaben.4 Von den sowjetischen Häftlingen gibt es folglich auch die wenigsten Überlieferungen, die meisten Informationen zu den Umständen im Lager stammen von Inhaftierten der „West-Alliierten“ insbesondere Franzosen und Belgiern.5 Im Februar 1945 traf ein Bombenangriff der Alliierten die hölzernen Baracken des Lagers6 – und da es den sowjetischen Häftlingen verboten war, die Luftschutzbunker zu nutzen, kam es zu vielen Opfern unter ihnen. Ein Monat später, März 1945, befreiten die Amerikaner das Lager.
Die meisten Schicksale sind bislang wohl im Dunkeln geblieben, bis heute ist es unklar, wie viele der Gefangenen die Haft und die Strapazen überhaupt überlebten. Eine Anfrage an das Bundes-/ und Militär-Archiv in Freiburg blieb bislang trotz Eingangsbestätigung unbeantwortet.
Die Entstehungsgeschichte des Denkmals auf dem Friedhof Duisdorf ist auch lückenhaft. Es fängt an bei den widersprüchlichen Informationen um die genaue Zahl der Opfer: Das Büro für Kriegsgräberfürsorge und Gedenkarbeit der Russischen Botschaft in Deutschland nennt 96 Kriegsgefangene, während die Denkmalinschrift von 102 spricht. Auf Rückfrage bei dem russischen Büro verweist Herr Dr. Lutz Prieß, zuständig für „Sowjetmeoriale“ in Deutschland auf die, nachträglich, schwierige Vereinbarkeit widersprüchliche Daten.
Auch das Bonner Amt für Grünpflege, eigentlich verantwortlich für die Friedhöfe verfügt hier über keinerlei Informationen. Die zuständige Referentin beantwortet die Anfrage per Mail mit dem Zitat des lokalen Gartenmeisters: „In den 70er Jahren wurde dieser Stein von den Russen auf dem Friedhof aufgestellt.“ Auch die Bonner NS-Gedenkstätte erweist sich in dieser Sache leider als Sackgasse, immerhin verfügten sie über die Schilderungen eines polnischen Gefangenen aus dem Stalag, die einige interessante Daten über die Anzahl der Häftlinge auf der Hardthöhe so wie deren Nationalität enthielt.7 Ein gerade aus dem Netz genommener Artikel der lokalen Tageszeitung „General Anzeiger“, den die Redaktion dankenswerter Weise nach einem Telefonat aus dem Archiv zur Verfügung stellte, geht hervor, dass es sich laut Generalkonsulat Russlands bei den Toten nicht um Angehörige der Roten Armee, sondern um Zwangsarbeiter – zur Ausbeutung der Arbeitskraft verschleppte Zivilisten handelte.8
Vieles weitere bleibt unklar. Auf dem Friedhof lassen sich weder die Namen der Verstorbenen noch deren Gräber finden. Insbesondere in Anbetracht der riesigen Anzahl der Kriegsgefangenen und der abwertend so genannten „Ostarbeiter“ wird es deutlich, wie groß unsere Wissenslücke und die Leerstelle im öffentlichen Gedenken ist. Bis heute sind die Schicksale der Opfer nicht aufgearbeitet. Für die Hinterbliebenen eine doppelte Belastung, für alle anderen ist sowohl das Wissen, als auch die Erkenntnis, wie wenig wir überhaupt wissen die deutlichste Mahnung.
1 Bonn-Duisdorf, Sowjetischer Ehrenfriedhof, in: Sowjetische Memoriale. http://www.sowjetische-memoriale.de/index.cfm?inhalt=detail&lang=de&id=14767
2 Vogt, Helmut: Bonn im Bombenkrieg 1939-1945, in: Portal Rheinische Geschichte. http://www.rheinische-geschichte.lvr.de/Epochen-und-Themen/Themen/bonn-im-bombenkrieg-1939-1945/DE-2086/lido/57d1299dd5a747.48656399#toc-7.
3 General Anzeiger Samstag/Sonntag, 24./25. Februar 2018.
4 Ebd.
5 Écho de la Hardthöhe, in: https://argonnaute.parisnanterre.fr/ark:/14707/a011523969031ey2fgs.
6 Vogt, Bonn im Bombenkrieg.
7 Hardthöhe einmal anders, Altman, aus: Kriegsgefangene Polen in Bonn und Umgebung im II. Weltkrieg.
8 General Anzeiger Samstag/Sonntag, 24./25. Februar 2018.