Unbehagen und Widersprüche. Der lange Schatten des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs.

Gedenkrede in Hebertshausen am 22.06.2023, Hera Shokohi.

Foto: Hera Shokohi
Foto: Hera Shokohi

Am 22. Juni 1941 schreibt die fünfzehnjährige Irina Peskova in ihr Tagebuch. „13 Uhr. Alles ist vorbei!!! Es ist wieder Krieg! Anya Koroleva ist hier, sie erzählte es, sie hat es im Radio gehört. Heute Nacht haben die Deutschen Kyïv, Zhitomir und andere Städte angegriffen. Mein Gott, warum, warum sind sie solche Mistkerle? Jetzt müssen wir jeden Tag auf den Tod warten. […] Oh Gott, oh Gott. Oh Gott! Und ich weiß nicht, warum ich ein Tagebuch führe! Vielleicht lebe ich morgen nicht mehr!

Irinas Tagebucheintrag ist nur eines von vielen Zeugnissen, die die Erschütterung und die Angst der sowjetischen Bevölkerung am 22. Juni 1941 aufzeigen. An diesem Tag — um vier Uhr in den frühen Morgenstunden — überfiel die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion. Der Krieg Deutschlands gegen die Sowjetunion wurde von der NS-Führung als ein Raub- und Vernichtungskrieg geplant. Der Osten Europas und seine Bevölkerungsgruppen sollten vernichtet, kolonisiert und ausgebeutet werden. In der Ideologie Hitlers und des Nationalsozialismus war dieser Krieg ein Kampf gegen den „jüdischen Bolschewismus“ und ein Kampf für „deutschen Lebensraum“. Die Menschen, die in deutsch besetzten Gebieten lebten, waren Demütigung, Gewalt, Vertreibung und Vernichtung ausgesetzt.In diesem Krieg kamen 27 Millionen sowjetische Menschen um: 13 Millionen davon waren Militärangehörige, 14 Millionen Zivilistinnen und Zivilisten.

Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen Deutschlands,“ heißt es in Heydrichs Einsatzbefehl Nummer 8. Das Töten sowjetischer Militärangehöriger war aufgrund des Kommissarbefehls und des Krieggerichtsbarkeitserlasses zu einer allgemeinen Taktik des Krieges geworden. Sowohl sogenannte „feindliche Zivilpersonen“ als auch Rotarmisten sollten sofort erschossen werden. Sie wurden nicht entsprechend völkerrechtlich bindender Richtlinien als Kriegsgefangene behandelt, die man entwaffnen und dann in Schutz unterbringen sollte. Das Ermorden der Rotarmisten und sowjetischen Zivilist:innen entsprach der Ideologie des Kampfes für Lebensraum. Kriegsgefangene, die nicht sofort getötet wurden, wurden temporär in Durchgangslagern untergebracht, bevor sie in das Deutsche Reich verschleppt wurden, wo sie als Zwangsarbeiter:innen eingesetzt wurden. In den ersten Monaten des deutsch-sowjetischen Krieges starben 2 Millionen Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft, zwischen Juni 1941 bis Mai 1945 befanden sich 5,7 Millionen Rotarmisten in den Lagern. Davon kamen 3 Millionen um. Wenn sie nicht ermordet wurden, starben sie an Krankheit, mangelhafter Versorgung oder harter Zwangsarbeit. Die Kriegsgefangenen sollten überprüft und verhört werden, um zu ermitteln, ob sie „gefährlich“ oder „untragbar“ sind. Als solche galten Militär- und Parteifunktionäre, Intellektuelle, Juden, und echte sowie vermeintliche Kommunisten. Eben diese wurden von der SS hingerichtet.

Die rassistischen Verbrechen der Deutschen fanden nicht nur im Osten Europas statt. Sie sind näher an uns und unsere alltägliche Umgebung gebunden, als es auf den ersten Blick scheint. Am 26. und 27. August 1941 wurden in Dachau die ersten sowjetischen Kriegsgefangenen von der SS hingerichtet. Diese Hinrichtungen sollten jedoch versteckt und unbemerkt stattfinden. So wurde nach vier Wochen beschlossen, die Erschießungen nach Hebertshausen auszulagern, weil dieser Ort besser abzuschirmen war. Hier in Hebertshausen wurden 4000 sowjetische Kriegsgefangene ermordet.

Einer der Ermordeten war Mustakim Mustafewitsch Bajbulatow. Er war 25 Jahre alt, als er von der Nürnberger Gestapo nach Dachau zur Erschießung übergeben wurde. Er stammte aus Baschkorostan, einer mehrheitlich muslimisch geprägten Autonomen Republik der RSFSR. Nach seiner Schulzeit, in der er seine Ehefrau Fatyma kennenlernte, besuchte er ab 1940 die militärpolitische Schule der Komintern in Moskau. Er schloss sie als Politruk, Politoffizier, ab und war für die ideologische Erziehung und Belehrung von Soldaten zuständig. Mustakim war in Belarus stationiert und wurde dort von der Wehrmacht gefangengenommen. Im Oktober 1941 wurde er hingerichtet. Im Kommissarbefehl des Oberkommandos der Wehrmacht wurde explizit die Vernichtung dieser Politruks gefordert. Mustakim war nicht der einzige Politruk, der hier ermordet wurde. Auch Wasilij Wasilewitsch Skrypnikow war ein Politruk. Zum Zeitpunkt seiner Hinrichtung in Dachau war er 36. Lew Michajlowitsch Kamionko war ebenfalls Politruk. Bei seiner Erschießung in Hebertshausen war er 37 Jahre alt.

Das Team der KZ-Gedenkstätte Dachau hat zehn Biographien von sowjetischen Kriegsgefangenen rekonstruiert, die hier inhaftiert waren. Neun von ihnen wurden ermordet: Ihre Namen sind Wladimir Semenowitsch Poltawskij, Lew Michajlowitsch Kamionko, Wasilij Nikolaewitsch Sibrin, Grigorij Dmitriewitsch Smirnow, Nikolaj Gawriilowitsch Gribanow, Mustakim Mustafewitsch Bajbulatow, Wasilij Wasilewitsch Skrypnikow, Anatolij Prokofewitsch Teplow und Pawel Petrowitsch Ermoschenko. Moisej Beniaminowitsch Temkin überlebte.

Da der Krieg gegen die Sowjetunion als Vernichtungskrieg geplant war, wurden die Kriegsgefangenen nicht ausführlich dokumentiert. In Anbetracht des Quellenmangels und der Schwierigkeit, die Lebenswege der Opfer zu rekonstruieren, kann man diese Rechercheleistung der Gedenkstätte nicht hoch genug schätzen. Die Spuren, die wir von Zwangsarbeiter:innen haben, sind spärlich.

Manchmal ist ein Name das einzige, was wir von den Opfern haben. Ich denke oft an Nina, eine Frau aus der Ukrainischen Sowjetrepublik (Artemowsk, heute Bachmut), die nach Bonn verschleppt wurde und für die Firma Soennecken Zwangsarbeit leisten musste. Ihre Grabplatte befindet sich auf dem auf dem Bonner Nordfriedhof bei dem Gräberfeld für sowjetische Zwangsarbeiter:innen. Sie starb im Alter von 21 Jahren. Auf der Grabplatte steht Nina Varyschnikova. Auf ihrem Stolperstein, der 2020 vor dem Standort der ehemaligen Soennecken-Werke verlegt wurde, wo heute ein Institut der Uni Bonn ist, lesen wir den Namen Nina Baryschnikova. Sieht man sich die Dokumente der damaligen Bonner NS-Behörden an, findet man wieder den Nachnamen mit der Schreibweise Baryschnikova. Hat man bei der Grabplatte fläschlicherweise das kyrillische V für ein B gehalten, weil es dem lateinischen B ähnlichsieht? Haben die Nazi-Behörden sich in den Dokumenten vertippt, weil V und B auf einer Tastatur nebeneinander positioniert sind? Oder ist es schlichtweg der Tatsache geschuldet, dass die Dokumentation von insbesondere sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter:innen von den Nazis nicht als relevant genug betrachtet wurde? Allein dieser kleine Buchstabendreher im Namen kann die Recherche über eine Person und die Rekonstruktion ihres Lebensweges enorm erschweren.

Die Zwangsarbeiter:innen und die Opfer des Holocaust durch Massenerschießung blieben für lange Zeit in Deutschland in Vergessenheit. Erst 2000, als die Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft gegründet wurde, begann die Entschädigung der Zwangsarbeiter:innen, die zuvor von Entschädigungsgesetzen ausgeschlossen wurden. Für die meisten war es zu spät.

Erst über 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnten diejenigen, die von den Nationalsozialisten für Zwangsarbeit ausgebeutet wurden, sich Gehör verschaffen. Es sind Schicksale mit zweifacher oder dreifacher Opfererfahrung: In der Sowjetunion wurden Zwangsarbeitende pauschal unter Kollaborationsverdacht gestellt, wurden diskriminiert und geächtet. In den westlichen Staaten, allen voran in der Bundesrepublik Deutschland, war der Antikommunismus so stark ausgeprägt, dass jahrzehntelang jeder Aktion, jeder Bemühung, an die sowjetischen Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, Steine in den Weg gelegt wurden. So wollten zum Beispiel 1961 Überlebende des KZ Dachau und ihre Angehörigen ein internationales Treffen organisieren, aber eine antikommunistische Kampagne der bayerischen Presse führte dazu, dass es verschoben werden musste. Man wollte „ein kommunistisches Treffen in der BRD“ verhindern. Dass der Eiserne Vorhang und der damit einhergehende Antikommunismus so einen Umgang mit den Überlebenden des Faschismus hervorbrachte, ist der Hauptgrund, wieso so wenige Deutsche von dem Vernichtungskrieg in der Sowjetunion und den sowjetischen Zwangsarbeiter:innen im Deutschen Reich wissen. Und während Westdeutschland „kommunistische Treffen“ verhindern wollte, wurde im Osten des Landes schon den ersten Naziverbrechern Prozess gemacht. Dieses Gefälle in der Aufarbeitung im Westen und Osten illustriert Susan Neiman in ihrem Buch Von den Deutschen lernen, wo sie sich unter anderem mit dem Mythos von Deutschland als Weltmeister der Aufarbeitung beschäftigt.

Weltmeister der Aufarbeitung“ — so ein Ausdruck kann nur Unbehagen in einem auslösen.

Wenn NSDAP-Funktionäre zum Teil noch politische Karriere in der Nachkriegszeit machen konnten und Firmen auf mysteriöse Weise in ihren Geschichtsdarstellungen die Jahre 1933-1945 auslassen, wurde der Nationalsozialismus dann wirklich aufgearbeitet? Kann Deutschland wirklich Weltmeister der Aufarbeitung sein, wenn sowjetische und osteuropäische Opfer des Nationalsozialismus jahrzehntelang systematisch ignoriert und vernachlässigt werden? Kann ein Land, in dem der Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten gegen die Sowjetunion in Schulbüchern in nur wenigen Sätzen abgehandelt wird, das Thema wirklich so gut aufgearbeitet oder bewältigt haben?

Haben wir aus der Vergangenheit gelernt, wenn Unmenschlichkeit in der geplanten Asylrechtsreform der Europäischen Union tonangebend ist? Es ist die Rede von Unterbringung in Lagern unter haftähnlichen Bedingungen, wenn es doch um Menschen geht, die vor Krieg und Gewalt fliehen. Es droht noch mehr Abschottung und Entrechtung von Menschen.

Und an dieser Stelle muss auch gewagt und eingefordert werden, über Europa hinauszublicken und die Auswirkungen des Nationalsozialismus im globalen und transnationalen Kontext zu betrachten. Ein Beispiel für so eine transnationale Kontextualisierung des Nationalsozialismus ist der Farhud — ein Pogrom an der jüdischen Bevölkerung Bagdads, das am 1./2. Juni 1941 stattfand. Die irakische Regierung unter Rashid Ali al-Gaylani war pronazistisch, antisemitisch und strebte ein Bündnis mit Deutschland, Italien und Japan an. Seine arabisch-nationalistische Regierung zerbrach, als er vor dem Aufrücken britischer Truppen flüchtete. Das Machtvakuum löste eine Spirale antisemitischer Gewalt aus. (Übrigens — Gaylani flüchtete letztlich nach Italien, traf sich mit Hitler in Berlin und wurde von Hitler offiziell als „Staatsoberhaupt Iraks im Exil“ anerkannt.). Das Farhud-Pogrom war einer der Gründe für den Massenexodus der irakischen Juden. Die Juden im Irak waren neben den Juden, die in Palästina lebten, eine der ältesten jüdischen Gemeinschaften. Die offiziellen Zahlen sprechen (Stand 2021) von 4 jüdischen Menschen in Bagdad und einigen vereinzelten Juden in der Region Kurdistans. Die Spuren jüdischen Lebens verschwanden. Der Holocaust ist eine deutsche Tat, aber er fand weltweit Unterstützer, weil Menschen anderen Menschen ihr Recht auf Leben absprachen.

Wir tendieren dazu, zu denken, dass wir die Geschichte kennen — doch dabei gibt es so viele Namen, Orte, Verbrechen, Opfer und Täter, die uns unbekannt bleiben. Vielleicht muss man sich auf die Apologie des Sokrates zurückbesinnen und anerkennen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

Geschichte schmerzt — und Geschichte muss schmerzen. Das philosophische Werk Reinhart Kosellecks war im Grunde nach einer Frage ausgerichtet: Wie kann man Auschwitz verstehen? (Auschwitz steht in diesem Kontext stellvertretend für das gesamte Grauen des Nationalsozialismus). Der Drang der Moderne, alles zu kategorisieren und einzuordnen, würde zu einem bürokratischen Wahn führen, der Rassismus schüren kann. Aber Verstehen — so richtig Verstehen, oder Nachempfinden — das sei nicht möglich. Keiner von uns, egal wie viel Empathie und Solidarität wir aufbringen können, wird je nachfühlen können, wie es ist, im Lager zu sein. Keiner weiß, wie sich die immer präsente Angst vor Vernichtung, Erschießung, Hunger oder Zwangsarbeit anfühlt. Wir können keinen positiven Sinn in diesem Terror und dieser Gewalt sehen. Die Erfahrungen sind unübertragbar. Das einzige, was die Nicht-Betroffenen und die Nachfolgegenerationen tun können, ist eine ständige Auseinandersetzung mit dieser Gewalt und dem Trauma und die Suche nach einer angemessenen Form, dieses Wissen zu vermitteln und denen zu widersprechen, die einen Schlussstrich ziehen wollen.

Theodor W. Adorno, ein deutsch-jüdischer Philosoph, der 1934 emigrierte und die Geschehnisse in Deutschland aus dem Ausland mitverfolgte, setzte sich nach 1945 in seinen philosophischen Arbeiten intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinander: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht nochmal sei, ist die allererste an die Erziehung,“ heißt es im Eröffnungssatz von Adornos Erziehung nach Auschwitz. „Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen.“ Alles muss man tun, um so ein politisches System und die damit einhergehende Gewalt zu verhindern. Adorno macht eine Reihe von Vorschlägen, um eine Wiederholung des barbarischen, bürokratischen und mörderischen Nationalsozialismus vorzubeugen. Man braucht eine neue Art der Bildung, eine, die auf Autonomie ausgelegt ist: „Die einzig wahrhafte Kraft gegen das Prinzip von Auschwitz wäre Autonomie, wenn ich den Kantischen Ausdruck verwenden darf, die Kraft zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen.“ Die Sensibilität für rassistische Ideologien und Mechanismen muss geschärft werden, damit sich so ein politisches System nie wieder etablieren kann.

Am 19. Februar 2020 ermordet ein Rechtsextremist in Hanau neun junge Menschen. Ihre Namen waren Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Filip Goman, der Vater der ermordeten Mercedes Kierpacz, sagte ein Jahr später: „Mein Opa wurde im KZ vergast, meine Tochter in Hanau erschossen.“ (Die Familie sind Roma). Der Bürgermeister Hanaus plädierte dafür, dass man die Tat in Hanau auch im Rahmen der NS-Vergangenheit deuten muss.

Geschichte ist kein Heilsversprechen, Erinnerungskultur bringt keine Erlösung, Historiker sind keine Propheten. Aber dennoch ist das Einzige, was wir tun können, genau das, was Adorno und Koselleck vor Jahrzehnten forderten: Wir brauchen Wissensvermittlung, Erziehung und Aufklärung in so einem Ausmaß, dass rassistische, antisemitische und rechtsextremistische Ideen erkannt und kritisiert werden; und dass man ständig gegen dieses Gedankengut Widerstand leistet.


Hier zum Bericht der Süddeutschen Zeitung über die Gedenkfeier.