von Jens Löffler
Ein besonders tragisches Kapitel des Zwangsarbeitereinsatzes im Bonner Raum spielte sich auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Alfter ab. In einer sogenannten „Ausländerkinder-Pflegestätte“ gingen mindestens 19 Säuglingen durch Unterernährung, Vernachlässigung und katastrophale hygienische Zustände unter den Augen des damaligen Alfterer Ortsbürgermeisters und Ortsbauernführers zugrunde. Erstmals konnte der genaue Standort der Pflegestätte ermittelt werden. Außerdem war es möglich 14 Opfer namentlich zu identifizieren.
Ende September 1944 arbeiteten rund 1,99 Millionen ausländische Frauen im Deutschen Reich. Der Großteil von ihnen waren Ostarbeiterinnen, polnische Ukrainerinnen sowie ethnische Polinnen, meist zwischen 15 und 25 Jahren alt. Trotz aller Anstrengungen war es den Nazis nicht möglich, Schwangerschaften von Zwangsarbeiterinnen zu unterbinden. Eine genaue Anzahl der Schwangerschaften ist nicht überliefert. Ausgehend von den für den Gau Schwaben bekannten Zahlen schließt Mark Spoerer in einer vorsichtigen Schätzung auf eine Zahl von ca. 40.000 Schwangerschaften im gesamten damaligen Reichsgebiet.[1] Ein Teil der Frauen wurde bereits schwanger verschleppt. Besuchs- und Eheschließungsverbote für die Arbeiterinnen und Arbeiter während ihres Einsatzes im Reich konnten nicht verhindern, dass sich Männer und Frauen näher kamen. [2] Auch die Ausnutzung der Machtposition deutscher Vorarbeiter und Lagerführer, sprich Vergewaltigungen, sind mehrfach nachgewiesen.[3]Angesichts dieser Tatsachen stellte sich für die Nationalsozialisten mit zunehmender Dringlichkeit die Frage, wie sie mit schwangeren Zwangsarbeiterinnen, insbesondere mit schwangeren Ostarbeiterinnen und Polinnen, die dem NS-Staat nicht nur aus wirtschaftlicher Sicht, sondern ebenso aus rassenideologischen Gründen ein Ärgernis waren, umgehen sollten.
Zunächst reagierte das Regime mit der Abschiebung der Schwangeren in ihre Heimatländer. Schnell stellte sich allerdings heraus, dass dieser legale Weg zurück ein willkommener Ausweg für viele Frauen zu sein schien, denn die Schwangerschaften unter Polinnen stiegen massiv an.[4] Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil die Tatsache, dass polnische Frauen lieber unverheiratet und schwanger in ihre katholische Heimat zurückkehrten, als im Reich arbeiten zu müssen, einiges über die Umstände der Arbeit aussagt. Angesichts dieser Entwicklung und wegen der wachsenden Bedeutung der Arbeitskraft der Ostarbeiterinnen für die Kriegswirtschaft, erließ Fritz Sauckel, seines Zeichens Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz, im Dezember 1942 eine Anordnung, nach der die Abschiebungen zu stoppen waren und stattdessen Entbindungs- und Kinderanstalten errichtet werden sollten. Gleichzeitig förderte das NS-Regime die Durchführung von Abtreibungen unter den Polinnen und Ostarbeiterinnen dadurch, dass diese strafrechtlich nicht mehr verfolgt wurden. Der Schwangerschaftsabbruch wurde den Frauen teils nahegelegt, teils wurden sie zur Abtreibung gedrängt oder gezwungen.[5] Es wird geschätzt, dass in Folge dessen etwa ein Viertel der Frauen abtrieb.[6] Mutterschutzregelungen, wie sie für deutsche Frauen aber auch Frauen anderer Nationalitäten galten, galten nicht für die Frauen aus der Ostarbeiterinnen und Polinnen. Ihnen wurde nur ein „Mindestschutz“ von zwei Wochen vor und sechs Wochen nach der Geburt zugesprochen, wobei es für Haus- und Heimarbeiten überhaupt keine Befreiung gab.[7] Ab Mitte 1943 wurden die „schlechtrassigen“ Kinder von Ostarbeiterinnen und Polinnen nach der Geburt von Ihren Müttern getrennt und in separaten Heimen untergebracht, während „gutrassische Kinder“ ebenfalls von Ihren Müttern getrennt wurden und in Kinderheimen der Volkswohlfahrt, Familienpflegestätten oder im „Lebensborn“ großgezogen wurden.[8] Die Heime für die ersteren Kinder, für die eine Säuglingssterblichkeit von durchschnittlich über 50 %, in Einzelfällen bis zu 90% bezeugt ist[9], bekamen die bewusst hochtrabende Bezeichnung „Ausländerkinder-Pflegestätten“. Untere Dienststellen dagegen bezeichneten die Einrichtungen „einfachster Art“[10] schlicht als „Aufzuchtraum für Bastarde“[11]. Im gesamten damaligen Reichsgebiet entstanden 400 – 600 solcher Einrichtungen.[12] Für Alfter ist die Existenz einer solchen Einrichtung seit Mai 1944 belegt.[13]

Stein des Anstosses: Ende 2020 wurde eine Ausländermeldekartei in das Gemeindearchiv übernommen. Die 863 Karteikarten bildeten die Grundlage für eine erste quantitative Untersuchung zur Zwangsarbeit auf dem Gebiet der heutigen Gemeinde Alfter und wichtige Hinweise zur sogenannten „Ausländerkinder-Pflegestätte“.
Die Zustände in der Pflegestätte
Es war der Bonner Historiker Helmut Vogt, der im Rahmen seiner Recherchen zur Beueler Jutespinnerei auf eine entsprechende Quelle beim Landesarchiv NRW stieß und erstmals in der Literatur darauf hinwies.[14] In der Folge wurde die Pflegestätte in Publikationen zur Geschichte der Bonner Zwangsarbeiterinnen immer wieder am Rande behandelt.[15] Dabei stützten sich diese Publikationen in Ermangelung weiterer Quellen im Wesentlichen auf die von Vogt genannte Quelle im Landesarchiv. Hierbei handelt es sich um mehrere Schreiben des staatlichen Gesundheitsamtes des Landkreises Bonn an die Kreisbauernschaft.[16] Ein Amtsarzt berichtet in den insgesamt drei Briefen über die Zustände, die er in der Ausländerkinder-Pflegestätte in Alfter vorfand. Offensichtlich existierten noch weitere Schreiben zu der Pflegestätte, die jedoch nicht erhalten oder zumindest bisher nicht aufgefunden worden sind.
Im ersten überlieferten Schreiben vom 9.11.1944 berichtet der Mediziner über eine drei Tage zuvor stattgefundene Besichtigung der Pflegestätte in Alfter. Eine Gewichtsprüfung der 18 dort untergebrachten Kinder ergab demnach, dass sich alle bis auf drei Kinder in einem „mehr oder weniger schwerkranken Zustand“ befanden, sprich unterernährt waren. Angesichts der Zustände sah sich der Amtsarzt genötigt, den Verantwortlichen die katastrophale Bilanz der Einrichtung vor Augen zu führen: Von 32 Kindern, die seit Mai in die Pflegestätte eingewiesen worden waren, sind 11 „zugrunde gegangen“. 11 Kinder mussten in Krankenanstalten überwiesen werden, wo 6 von ihnen starben. Die übrigen 5 wurden zum Teil von Ihren Müttern aus den Krankenanstalten zurückgeholt, vermutlich, weil unter den Müttern ein großes Misstrauen herrschte. Eines dieser Kinder verstarb nach seiner Rückkehr in der Pflegestätte.[17]Es starben also bis zum ersten Bericht des Arztes mindestens 11 Kinder in der Einrichtung oder an den Folgen der dortigen „Pflege“.[18] Von einem weiteren Todesfall berichtet der Amtsarzt in seinem letzten Schreiben vom 20. November 1944.
Neben der Unterernährung trugen zu dieser Entwicklung die katastrophalen hygienischen Zustände bei. Es fehlte an Kleidung, Windeln, Bettwäsche und Handtüchern. Nicht einmal genug Stroh für die Betten gab es. Einer der – erst auf Anordnung des Gesundheitsamtes – aufgestellten Öfen, war falsch installiert und verbreitete Rauchgase im Obergeschoss der zweistöckigen Baracke. Schwere Vorwürfe erhebt der Amtsarzt gegen die Betreiber des Heims, denen es „im Verlauf von 7 Wochen nicht möglich gewesen ist, die Voraussetzungen für ordnungsgemäße Pflegezustände dort zu schaffen“[19]. Auch die Abordnung einer Pflegekraft durch das Gesundheitsamt blieb ohne positive Wirkung. Offensichtlich wurden von Seiten der Betreiber keinerlei Anstrengungen unternommen, die Situation zu verbessern. Die Pflegestätte war durch die Träger nicht einmal beim Kreiswirtschaftsamt gemeldet und daher nicht zum Bezug entsprechender Lebensmittel qualifiziert.[20] Brennstoff war nur begrenzt vorhanden, die Wasserversorgung zeitweise unterbrochen.[21] Das Gesundheitsamt sah sich unter den gegebenen Umständen nicht mehr in der Lage, die Verantwortung für die Zustände in Alfter zu tragen und empfahl die kranken Kinder zur Verhinderung weiterer Todesfälle in Krankenanstalten einzuweisen und Mütter mit gesunden Kindern Betrieben zuzuweisen „in denen eine Belastung durch Mutter und Kind nicht oder nur in tragbarem Umfang zu erwarten“[22]war.
Bevor es jedoch dazu kommen konnte, sah sich das Gesundheitsamt wegen besorgniserregender Meldungen der in dem Heim tätigen Krankenschwester erneut zum Handeln gezwungen. Allem Anschein nach griff eine ansteckende Durchfallkrankheit in der Einrichtung um sich. Erneut mahnte der Arzt die dringende Schaffung von hygienischen Verhältnissen durch die Bereitstellung von Trocknungsmöglichkeiten und eine funktionierende Wasserversorgung an. Auch war der defekte Ofen im ersten Stock der Einrichtung noch immer nicht repariert, weshalb nur der halbe Platz zur Verfügung stand. Das Gesundheitsamt verhängte eine Quarantäne und betonte die Wichtigkeit, diese unbedingt durchzusetzen. Eine zunehmende Gefahr für die Abriegelung der Einrichtung sah der Amtsarzt in den Müttern der Kinder, die angesichts der Zustände im Pflegeheim dazu übergegangen waren, die Wäsche ihrer Kinder mitzunehmen und bei ihren Arbeitgebern zu säubern.[23]
Zu einem Bruch der angeordneten Quarantäne kam es kurze Zeit später jedoch nicht durch die besorgten Mütter, sondern durch den Alfterer Ortsbauernführer Johann Hennes, seit 1939 erster Beigeordneter der Gemeinde Alfter und zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahre stellvertretend für Theo Weber Ortsbürgermeister. Trotz verhängter Quarantäne und ohne Berücksichtigung des kritischen Gesundheitszustands der Kinder brachte er mehrere Mütter mitsamt ihren Kindern zum Arbeitsamt Bonn, von wo alle Ostarbeiterfrauen mit Kindern „insbesondere derer aus der Kinderpflegestätte Alfter“[24] in das rechtsrheinische Gebiet verlegt werden sollten. Ein Teil der Kinder wurde mit Ihren Müttern in der Folge auf dem Gelände der Beueler Jutespinnerei untergebracht. Erst hinterher erfolgte die Entwarnung des hygienischen Instituts, das eine ansteckende Erkrankung der Kinder ausschloss. Unmittelbar danach wurde mit der Rücküberweisung der Kinder in die Pflegestätte begonnen.
Der letzte überlieferte Brief des Amtsarztes enthält noch einen weiteren traurigen Hinweis darauf, wie schrecklich die Zustände in dem Pflegeheim gewesen sein müssen. So war bei der letzten Gewichtsprüfung der „relativ günstige Zustand“[25] eines Kindes aufgefallen und Grund genug, die Mutter des Kindes, die dem Kinderheim als Pflegekraft zugeteilt worden war, zu verdächtigen, Teile der Lebensmittelrationen für die anderen Kinder abgezweigt zu haben. Die Lebensmittelzuteilungen für die Neugeborenen waren also offensichtlich derart ungenügend, dass eine ausreichende Ernährung bereits als Auffälligkeit galt und Misstrauen erregte. Ob in der Pflegestätte die gleiche, für Säuglinge völlig ungeeignete und unzureichende Verpflegung von einem halben Liter Milch und anderthalb Stück Zucker täglich verabreicht wurde, wie es in den ersten Heimen dieser Art gemacht wurde[26], lässt sich ebenso wenig klären wie die Frage, ob die Mutter tatsächlich Rationen abgezweigt hat oder ob ihr ihre Tätigkeit im Pflegeheim nur die Möglichkeit gegeben hatte, ihr Kind regelmäßig zu stillen.
Standort, Trägerschaft, Verantwortliche
Johanna Seebacher vermutete beim Standort Kontinuitäten zwischen der Pflegestätte und der 1916 vom Vaterländischen Frauenverein Bonn Land eingerichteten Kriegskinderkrippe, in der die Arbeiterinnen der Munitionsfabriken ihre Kinder betreuen lassen konnten und die sich seit dem Sommer 1916 in einem leerstehenden Flügel der Burg Alfter befunden hatte.[27] Hinweise von Zeitzeugen aus Alfter und Umgebung deuteten jedoch relativ früh auf einen anderen Standort hin. So berichtete die 1933 in Alfter geborene Anneliese H., eine Art Kinderheim habe sich neben dem Wohnhaus des bereits oben erwähnten Ortsbauernführers Hennes am Landgraben auf der Höhe der Abzweigung Freudiger Weg befunden. Ein anderer Befragter wusste zu berichten, das Gebäude sei dort durch Zwangsarbeiter errichtet worden. Tatsächlich stimmt die damalige Adresse des Ortsbauernführers „Landgraben 112“ mit dieser Standortbeschreibung überein. Im Rahmen der Recherche konnten vier Opfer identifiziert werden, Kinder von Ostarbeiterinnen im Alter von wenigen Monaten, die im November 1944 an dieser Adresse gestorben sind. Eins dieser Kinder, das Mädchen Halina Konikowa, wurde in der oben beschriebenen Korrespondenz zwischen Gesundheitsamt und Kreisbauernschaft namentlich als Insassin der Pflegestätte erwähnt.[28] Damit steht außer Frage, dass es sich hierbei um den Standort der Pflegestätte handelt. Dieser Zusammenhang erklärt auch, warum Ortsbauernführer Hennes trotz Abriegelung des Heims durch das Gesundheitsamt offenbar uneingeschränkten Zugang hatte.
Wo es ging, wurde das Personal in der Pflegestätte aus den Reihen der Frauen rekrutiert, die auch gezwungen wurden, ihre Kinder dorthin abzugeben. Aus den vorliegenden Quellen lässt sich zumindest ein Fall entnehmen, bei dem eine Mutter auch als Arbeitskraft im Heim eingesetzt wurde.[29] Eine weitere Ostarbeiterin wurde als Putzfrau eingesetzt.[30] Auf diese Weise sparten die Träger nicht nur am Gehalt, denn die Mütter wurden für die menschenunwürdige Behandlung ihrer Kinder auch noch mit einem Tagessatz von 0,75 Reichsmark zur Kasse gebeten[31], sie verhinderten zudem, dass allzu viel über die katastrophalen Zustände in den Einrichtungen öffentlich wurde.
Auch wenn Träger der Pflegestätte vermutlich die Kreisbauernschaft Bonn war, die immer wieder als Adressat in den Schreiben des Gesundheitsamtes auftaucht, so lag die Situation vor Ort doch in den Händen des Ortsbauernführers. Es muss davon ausgegangen werden, dass er über die Zustände in der Einrichtung sehr genau Bescheid wusste und nichts tat, um die Lage der Kinder zu verbessern und das Sterben zu beenden. Stattdessen schob er die Verantwortung scheinbar auf das Pflegepersonal des Gesundheitsamtes ab oder relativierte die Lage.[32] 1942 wurde Hennes im „Heimatbrief der NSDAP“ für seine „vorbildliche Leitung des Arbeitseinsatzes“ gelobt. Seine größte Sorge sei, dass in „Anbau und Erzeugung kein Rückgang eintritt“[33]. Um die Kinder der Zwangsarbeiterinnen scheint sich der Landwirt, der nach dem Krieg zeitweise Vorsitzender des Roisdorfer Centralmarktes wurde[34], jedenfalls weniger gesorgt zu haben. Während Hennes die Ernte plante, verhungerten im Nebengebäude die Kinder der Ostarbeiterinnen. Es half den Kindern auch nicht, wenn ihre Mütter direkt für den Ortsbauernführer arbeiten mussten, wie das Schicksal des kleinen Alexander Hontar zeigt, dessen Mutter in Hennes Betrieb eingesetzt wurde und der Ende 1944 an einer „Ernährungsstörung“ zu Grunde ging. Nicht einmal die Nähe der Mutter vermochte das Kind zu retten. Es gilt die bereits von Gisela Schwarze getroffene Feststellung „Das Schicksal der Säuglinge und Kleinkinder hing demnach von der jeweiligen Einstellung der für die Mütter und ihre Kinder verantwortlichen Deutschen ab, wobei es trotz der rassistischen Vorgaben seitens der SS und des GBA durchaus noch Spielraum gab, wie einige Firmenlager beweisen. Aber häufiger waren dumpfe Gleichgültigkeit, bösartiger Rassismus, Unterschlagung von Zucker und Nährmittel, die den Tod von Tausenden von polnischen, ukrainischen und russischen Säuglingen zur Folge hatten.“[35].
Anhand der bisher bekannten Quellen ist nicht zu klären, auf wessen Initiative die Einrichtung der Pflegestätte zurückging und ob Alfter als Standort ausgewählt wurde oder man sich bewusst als Standort beworben hatte. Die Unterbringung der Kinder hatte in jedem Fall den Nebeneffekt, dass die vorher meist in den umliegenden Städten und Gemeinden eingesetzten Mütter Betrieben in unmittelbarer Nähe der Pflegestätte zugewiesen wurden, was ein Motiv für die Landwirte bzw. den Ortsbauernführer gewesen sein mag, die Einrichtung einer solchen Pflegestätte zu begrüßen.
Die Opfer
Da keine Dokumente bekannt sind, die alle Insassen der Pflegestätte explizit aufführen, lassen sich Todesfälle von Kleinkindern von Ostarbeiterinnen und Polinnen jedoch nicht ohne weiteres mit dem Heim in Verbindung bringen. Bei der Auswertung der beim Stadtarchiv Bonn für das Jahr 1944 vorliegenden Sterbeurkunden fanden sich vier Todesfälle, die sich aufgrund der Angaben direkt mit der Pflegestätte in Verbindung bringen lassen. Die Kinder Peter Turulina, Marija Sinjuk, Viktor Morkunow und Halina Konikowa verstarben kurz hintereinander zwischen dem 6. und dem 17. November an der Adresse Landgraben 112 bzw. im „Kinderheim Alfter“. Ihr Tod fällt somit in den Zeitraum der oben zitierten Berichte des Amtsarztes. Die weiteren hier aufgelisteten Todesfälle lassen sich entweder über die erwähnte Korrespondenz des Amtsarztes, über Daten der Ausländermeldekartei Alfter und der Zwangsarbeiterdatei Bonn oder über die Angaben in der Sterbeurkunde mit Alfter in Verbindung bringen. Wenn eine Zwangsarbeiterin kurz vor oder nach einer Geburt in Alfter gemeldet wurde oder bereits in Alfter wohnhaft war, ist davon auszugehen, dass sie ihr Kind in der Pflegestätte abgeben musste und ein Tod des Kindes mit den dortigen Zuständen in Verbindung steht. Die Zusammenführung der Daten zeigt, dass der Großteil der Kinder in Bonner Krankenhäusern zur Welt kam und die Anmeldung der Mütter in Alfter dann in der Regel erst nach der Geburt erfolgte. In einem Fall erfolgte die Anmeldung der Mutter erst sechs Monate nach der Geburt, Anfang Mai 1944. Nach der Eröffnung der Pflegestätte wurden also auch Kinder, deren Geburt schon länger zurücklag, noch „nachträglich“ dort eingewiesen. In einem Fall erfolgte die Ummeldung der Mutter bereits drei Wochen vor der Geburt (Abb. 2). Die Meldedaten zeigen, dass Polinnen und Ostarbeiterinnen aus dem gesamten damaligen Landkreis Bonn gezwungen wurden, ihre Kinder in die Alfterer Pflegestätte abzugeben. Es lassen sich entsprechende Ummeldungen aus dem Gebiet der heutigen Gemeinde Alfter, aus Bornheim, Godesberg, Wachtberg und Swisttal nachweisen.

Wera P. musste ursprünglich bei einem Gielsdorfer Landwirt arbeiten, kam dann zu einem Bauern nach Hersel. Hochschwanger wurde Sie wenige Wochen vor der Geburt ihres Sohnes zu einem Alfterer Landwirt „umvermittelt“.
Entsprechend der Herkunft der Frauen, der Trägerschaft und der Berufsangaben in den Meldekarteien, war die Einrichtung offensichtlich als zentrale Pflegestätte für die in den landwirtschaftlichen Betrieben des Landkreises und der Stadt Bonn eingesetzten Polinnen und Ostarbeiterinnen gedacht. Aus dem Siegkreis lässt sich lediglich eine Anmeldung aus dem Amt Ruppichteroth mit der Alfterer Pflegestätte in Verbindung bringen. Der Großteil der Kinder verstarb nicht in Alfter selbst, sondern nach Überweisung in nahegelegene Krankenhäuser. 6 Säuglinge starben im Bonner Magdalenenstift in Dottendorf, 3 im städtischen Kinderkrankenhaus Bonn in der Lennéstraße und eines im Kloster Maria-Hilf in Bornheim. Entsprechend wurden die meisten Kinder auf dem Bonner Nordfriedhof beigesetzt. Lediglich für drei Kinder lässt sich eine Bestattung auf dem Alfterer Friedhof nachweisen, wobei die genaue Grablage nicht mehr zu ermitteln war. Da die Mütter ihre Religionszugehörigkeit mit „katholisch“ angaben, wurden die Beisetzungen im Alfterer Kirchenbuch festgehalten.[36] In zwei Fällen ließ sich nicht mehr feststellen, wo die Kinder ihre letzte Ruhestätte fanden.
Insgesamt konnten 14 Opfer namentlich identifiziert werden:
Name | Geburt | Tod | Todesursache | Grab |
Bogdanowa, Edmund | 10.09.1944Bad Godesberg | 22.03.1945Bornheim[37] | Bronchiolitis | BN-Nord |
Hontar / Contar, Alexander | 19.05.1944Mehlem | 25.12.1944Bonn | Ernährungsstörung | BN-Nord |
Leoschik, Michael | 07.05.1944Bonn | 28.09.1944Bonn | Atrophie, Kreislaufschwäche | BN-Nord |
Jawlowskaja, Jurik | 18.09.1944Bad Godesberg | 06.01.1945Bonn | Dystrophie | ? |
Konikowa, Halina | 07.05.1944Bonn | 17.11.1944Alfter | Darmkatarrh | Alfter |
Masurkewitsch, Thadäus | 11.01.1944Alfter | 29.07.1944Bonn | Bronchopneumonie | BN-Nord |
Morkunow, Viktor | 05.10.1944Bonn | 08.11.1944Alfter | Unterernährung | ? |
Plachina, Johann | 28.09.1944Bonn | 22.12.1944Bonn | Keuchhusten, Masern, Bronchopneumonie | BN-Nord |
Polosowa, Wladislaus | 08.06.1944Bonn | 28.12.1944Bonn | Ernährungsstörung | BN-Nord |
Saruba, Anneliese | 22.05.1944Bonn | 23.12.1944Bonn | Ernährungsstörung | BN-Nord |
Sinjuk, Marija | 07.07.1944Bonn | 07.11.1944Alfter | Keuchhusten, Unterernährung | Alfter |
Trizipanzek, Rolf-Dieter | 06.08.1944Bonn | 01.12.1944Bonn | Ernährungsstörung | BN-Nord |
Tschupwina, Viktoria | 30.05.1944Bonn | 20.10.1944Bonn | Atrophie | „zu klinischen Zwecken verwandt“[38] |
Turulina, Peter | 04.07.1944Bonn | 06.11.1944Alfter | Keuchhusten, Unterernährung | Alfter |
Anhand der Berichte des Gesundheitsamts lässt sich schnell feststellen, dass diese Liste unvollständig sein muss. In den Schreiben des Amtsarztes wird von mindestens 12 Todesfällen bis zum 20. November berichtet. Im Rahmen dieser Untersuchung konnten für diesen Zeitraum jedoch nur 7 Opfer identifiziert werden. Die anderen 7 identifizierten Kinder starben erst nach dem Schriftwechsel. Das bedeutet zum einen, dass mindestens 19 Säuglinge in Folge der katastrophalen Zustände in der Pflegestätte gestorben sein müssen und zum anderen, dass mindestens 5 Opfer trotz erheblicher Bemühungen noch nicht identifiziert werden konnten. Eine Überprüfung der Namen der Kindergräber auf dem Bonner Nordfriedhof blieb, abgesehen von den in der obigen Liste genannten Opfer, im Hinblick auf die Pflegestätte ergebnislos.[39] Es gibt also nach wie vor offene Fragen. Auch ist längst nicht jeder Aspekt des Zwangsarbeitereinsatzes in Alfter erforscht.
[1] Spoerer, Mark: Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart 2001, S. 205.
[2] Schwarze, Gisela: Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im Zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 142.
[3] Schwarze, S. 144.
[4] Schwarze, S. 144.
[5] Spoerer, S. 206.
[6] Vgl. Schwarze, S. 147.
[7] Vgl. Schwarze, S. 151.
[8] Seebacher, Johanna: „Vor Maschinen stelle ich keine deutschen Frauen.“ Ausländische Zwangsarbeiterinnen in Bonn 1939-1945. In: Kuhn, Annette (Hg.): Frauenleben im NS-Alltag, Pfaffenweiler 1994, S. 97-131, hier S. 118.
[9] Spoerer, S. 207.
[10] Runderlass des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei vom 27.7.1943, abgedruckt in: Czesław Łuczak (Hrsg.): Połozenie polskich robotników przymusowych w Rzeszy 1939-1945, Documenta occupationis Bd. IX. Poznań 1975, Dok. 162, S. 226.
[11] Zitiert nach Spoerer, S. 207.
[12] Dietsch, Benedikt: Zum Sterben verwahrt. Zeitungsartikel auf der Webpräsenz der Süddeutschen Zeitung, online abrufbar unter https://www.sueddeutsche.de/bayern/ns-zeit-zum-sterben-verwahrt-1.4449521.
[13] Hildt, Julia; Lenz Britta: Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Russland, Weißrussland. In: Dahlmann, Dittmar u.a.: Schlagen gut ein und leisten Befriedigendes“. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Bonn 1940-1945, Bonn 2006, S. 21-124, S. 95.
[14] Vogt, Helmut: Die Beueler Jutespinnerei und ihre Arbeiter 1868-1961. Ein Beitrag zur Industriegeschichte des Bonner Raumes (Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn Band 46), Bonn 1990, S. 168f.
[15] Hier sind zu nennen: Seebacher, S. 118-120 und Hildt; Lenz, S. 95-97.
[16]Schreiben vom 9., 13. und 20. November 1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 43-45.
[17] Schreiben an die Kreisbauernschaft vom 09.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 45.
[18] Das entsprechenden Schreiben des Amtsarztes vom 09.11.1944 lässt, was die Zahl der bis zu diesem Zeitpunkt in der Pflegestätte oder an den Folgen der Unterbringung in der Pflegestätte gestorbenen Säuglingen betrifft, zwei Interpretationen zu. Der Arzt schreibt: „Insgesamt sind bisher 32 Kinder in der Pflegestätte betreut worden, von diesen sind in der Zeit des halben Jahres seit Inbetriebnahme der Pflegestätte 11 zugrunde gegangen, d.h. rund jedes 3. Kind. Seit der Besichtigung vom 23.09.1944 wurden insgesamt 11 Kinder Krankenanstalten überwiesen. Von ihnen sind 6 Zugrunde gegangen. Die übrigen 5 sind zum Teil von ihren Müttern entgegen ärztlichen Rat wieder aus den Krankenanstalten zurückgeholt worden (3) zum Teil befinden sie sich noch in Anstaltsbehandlung (2). 1 von den in Anstaltsbehandlung überwiesenen, jedoch von den Müttern wieder zurückgeholten Kindern ist anschliessend in der Pflegestätte verstorben. 1 Kind ist von der Mutter trotz Krankheit aus der Pflegestätte in häusliche Pflege beim Arbeitgeber genommen worden.“ Johanna Seebacher schließt entsprechend auf „mindestens 10“ Opfer: Vgl. Seebacher S. 119. Julia Hildt und Britta Lenz hingegen interpretierten das Schreiben in dem Sinne, dass die vom Arzt aufgezählten Todesfälle ab dem 23. September zusätzlich zu den 11 zuerst genannten Fällen zu zählen seien: Vgl. Hildt; Lenz, S. 95. Damit läge die Zahl der Opfer bis zum 20. November bei insgesamt 17 Kleinkindern.
[19] Schreiben an die Kreisbauernschaft vom 09.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 45.
[20] Schreiben an die Kreisbauernschaft vom 20.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 43.
[21] Schreiben an die Kreisbauernschaft vom 13.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 44.
[22] Schreiben vom 09.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 45.
[23] Schreiben vom 13.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 44.
[24] Schreiben vom 20.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 43.
[25] Ebenda.
[26] Zur Ernährungssituation in den Pflegestätten vgl. Schwarze, S. 143.
[27] Seebacher, S. 118.
[28] Schreiben vom 13.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 44.
[29] Wie Fußnote 25.
[30] Gemeindearchiv Alfter, Ausländermeldekartei 1920 – 1958 Nr. 277.
[31] Vgl. Spoerer, S. 209. Für die Beerdigung ihrer Kinder wurden den Frauen 15 RM in Rechnung gestellt.
[32] So äußert sich der Amtsarzt im Schreiben vom 13.11.1944, Landesarchiv NRW Abteilung Rheinland BR 0009 Nr. 12894, Bl. 44 folgendermaßen: „Nach Einsichtnahme in die Äusserung des Ortsbürgermeisters, Ortsbauernführers Hennes in Alfter, gegenüber der dortigen Dienststelle zu meinem Schreiben vom 9.11.1944 bemerke ich, dass die von hier überwiesene Kinderpflegerin unter den gegebenen Verhältnissen nicht in der Lage sein wird, einen Leben und Gesundheit der in der Pflegestätte unterzubringenden und untergebrachten Kinder sichernden Betrieb zu gewährleisten.“
[33] Heimatbrief der NSDAP im Landkreis Bonn, Nr. 4, April 1942, S. 15 Stadtarchiv Bornheim, Slg. Esser Nr. 4/187.
[34] Dick, Anton: Die Rheinischen Versteigerungen und ihre Bedeutung, Meckenheim 2013. Online abrufbar unter http://obstbau-museum-rheinland.de/historie/zeige_objekt.php?auswahl=63&typ=pdf zuletzt abgerufen am 23.11.2020, S. 27.
[35] Schwarze, S. 154.
[36] Es handelt sich hierbei namentlich um Peter Turulina, Maria Sinjuk und Halina Konikowa. Vgl. Pfarrarchiv kath. Kirchengemeinde St. Matthäus, Nr. 204.
[37] Verstorben im Kloster Maria-Hilf Bornheim, heute Secundastraße 2-4.
[38] Liste der auf den Friedhöfen der Stadtgemeinde Bonn bestatteten Toten nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, 2.1.2./70582084/ITS Digital Archive, Arolsen Archives.
[39] Eine Durchsicht der Sterbeurkunden ergab, dass es sich größtenteils um Säuglinge handelt, die aus anderen umliegenden Städten und Gemeinden zur Behandlung in Bonner Krankenhäuser eingeliefert worden sind. In fünf Fällen ist auch hier als Todesursache „Ernährungsstörung“ angegeben, es ließ sich aber keine Verbindung zu Alfter herstellen.