Die Jutespinnerei in Bonn-Beuel und ihre Zwangsarbeiter während des Zweiten Weltkriegs

von Arne Cordes und Tiffany Schade

Wie viele andere Bonner Unternehmen zur Zeit des Zweiten Weltkrieges beschäftigte auch  das Werk der Vereinigten Jutespinnereien und – Webereien Aktiengesellschaft in Beuel zwischen 1940 und 1945 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in ihrem Betrieb. Dabei war dieser Industriebetrieb der größte Arbeitgeber für polnische Zwangsarbeiter in Bonn während des Zweiten Weltkrieges.1 In dieser Zeit bekam die Jutespinnerei jedoch nicht nur Aufträge von Nahrungsmittelkonzernen oder Unternehmen der Chemieindustrie, sondern auch von der Wehrmacht, für die in erster Linie Verpackungsmaterial, sowie Säcke für den Lebensmittelbereich hergestellt wurden, die für die besetzten Ostgebiete gedacht waren.2

„Anwerbung“ ausländischer Arbeitskräfte in Polen

In der Jutefabrik sollten die ausländischen Arbeitskräfte die einberufenen Arbeiter der Fabrik ersetzen. Sie kamen zunächst aus Frankreich, den Niederlanden und eben auch Polen.3 Für die Vermittlung und ‚Anwerbung‘ ausländischer Arbeitskräfte war das Bonner Arbeitsamt zuständig, jedoch schickte die Jutespinnerei selbst auch zum Teil Agentinnen nach Polen um Arbeitskräfte ‚anzuwerben‘.4 Teilweise drohten oder erpressten die Arbeitsämter auch potenzielle Arbeitskräfte und sogar Straßenrazzias wurden organisiert, um einen Nachschub an Arbeitskräften zu garantieren.5 Die Arbeitsämter schafften es sogar, dass potentielle Zwangsarbeiter sich ‚freiwillig‘ meldeten.  Im Arbeitsamt in Zdunska Wola waren zum Beispiel Zettel auf polnisch im Umlauf mit der Nachricht, dass wenn sich ein Kind (älter als 14 Jahre) aus der Familie freiwillig als Arbeitskraft nach Deutschland begibt, die anderen Geschwister dann nicht mehr zwangsverpflichtet werden können.6 Dass dieses Versprechen jedoch nicht der Wahrheit entsprach zeigt das Beispiel der jungen Klara Szulc. Das 18-jährige Mädchen aus Zdunska Wola meldete sich freiwillig und wurde im Mai 1940 Zwangsarbeiterin in der Beueler Jutefabrik.7 Nur ein Jahr später wurde ihr Bruder zwangsverpflichtet und arbeitete seitdem in der Jutespinnerei.8

Ankunft der ersten Zwangsarbeiter in Beuel

Im Juni 1940 wurden erstmals polnische Zwangsarbeiterinnen in der Jutespinnerei eingesetzt, dabei handelte es sich um 25 Mädchen aus dem polnischen Städtchen Sieradz.9 Die Jüngste war gerade einmal 13 Jahre alt und das älteste Mädchen 20 Jahre alt.10 Tatsächlich war es kein Zufall, dass gerade in Sieradz und auch in Zdunska Wola,  Częstochowa und Lodz Arbeitskräfte für die Jutespinnerei ‚angeworben‘ wurden, denn diese Städte waren bekannte polnische Textilindustriezentren.11 Ende des Jahres 1941 stieg die Anzahl an polnischen Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen deutlich an und auch Anfang 1942 wurden immer mehr ‚Ostarbeiter‘, also Menschen aus der Sowjetunion, zur Zwangsarbeit in der Jutespinnerei eingesetzt.12 Zu der Zeit lag der Anteil an Ausländern in der Jutespinnerei schon bei 45%.13 Laut eines Berichtes des Unternehmens für das Beueler Gemeindearchiv waren zu Höchstzeiten 450 Arbeiter im Einsatz.14 Aufgrund der Forderung zur Steigerung der Produktion fragte die Jutespinnerei beim Arbeitsamt weitere Arbeitskräfte an, vor allem ‚Ostarbeiterinnen‘, mit der Begründung: „Ostarbeiterinnen schlagen gut ein und leisten Befriedigendes. Polen weniger.“15 Die Leitung der Jutespinnerei hatte anscheinend „die Vorteile dieser billigen und leicht bis auf das Äußerste auszubeutenden Arbeitergruppe erkannt“.16 Gewusst ist, dass diese sogenannten ‚Ostarbeiterinnen‘ in der Jutespinnerei zum Teil als Weberinnen tätig waren, die genauen Arbeitsbereiche oder Arbeitsbedingungen sind jedoch heute nicht mehr nachzuvollziehen, denn es existieren schlichtweg keine Aussagen von ehemaligen sowjetischen Zwangsarbeiterin der Jutefabrik.17 Was die polnischen Zwangsarbeiter jedoch betrifft, so existieren hier einige Zeitzeugenaussagen, sowie deren Versicherungskarteikarten der AOK Bonn.18

Die Arbeits- und Lebensbedingungen der polnischen und sowjetischen Zwangsarbeiter

Die 25 jungen Mädchen und Frauen, die im Juni 1940 als erste Zwangsarbeiterinnen in der Jutespinnerei tätig waren, wohnten zunächst in Beuel in der Rheinstraße 129, im Tanzsaal einer Gaststätte.19 Die männlichen ausländischen Arbeiter wurden anfangs im Tanzsaal des Hotels ‚Rheindorf‘ untergebracht.20 Doch bereits im Herbst 1940 fing man an, Wohnbaracken für die polnischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen auf dem Gebiet der Fabrik zu bauen, da die ausländische Belegschaft ständig wuchs.21 Die Wohnbaracken, die seit 1942 von polnischen Zwangsarbeitern bewohnt wurden, befanden sich am Pfaffenweg und waren alle gleich groß.22 Die drei Wohnbaracken waren folgendermaßen unterteilt: Es gab eine Baracke für die Frauen, eine für die Männer und in einer dritten wohnten zum Teil Familien und zum Teil alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern.23 Bereits Anfang des Jahres 1942 waren die Wohnbaracken mit ungefähr 300 Personen völlig ausgelastet.24 Neben dem Polenlager existierte aber noch eine weitere Wohnbaracke, in der ausschließlich sowjetische Zwangsarbeiterinnen untergebracht waren.25 Die Werksleitung der Jutespinnerei schilderte rückblickend die Wohnsituation in den Lagern folgendermaßen:

Dem Zuge der Zeit entsprechend wurden die Abgänge an Arbeitskräften durch Ausländer, Russen, Polen, Franzosen ersetzt. Diese Leute wurden z.T. in einem während des Krieges errichteten Mädchenheim, zum anderen Teil in 4 Wohnbaracken, die mit Zentralheizung, fließendem Wasser, Badeeinrichtung, Waschküche ausgestattet waren, untergebracht. Um den Leuten den Aufenthalt so erträglich wie möglich zu machen, wurden schöne gartenreiche Anlagen mit Rastbänken geschaffen. In den Speiseräumen sorgte eine Radioanlage für Unterhaltung. Die Höchstzahl der Ausländer betrug 450.“26

Offensichtlich wurden die Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in diesem Bericht „stark beschönigt“, denn die existierenden Zeitzeugenaussagen schildern zum Teil eine ganz andere Wohnsituation.27 In einer Stube waren 24 Arbeiter untergebracht und in dieser standen dann zwei Etagenbetten einzeln, alle anderen Betten waren „Etagendoppelbetten“.28 Die einzelnen Reihen trennten lediglich 50 cm voneinander.29 Auch bekamen die Zwangsarbeiter keine richtige Bettwäsche, sondern nur Strohsäcke- und Kissen, wobei man später dazu überging, das Stroh durch Papierreste auszutauschen.30 Mit der sogenannten ‚Pferdedecke‘, was ein Stück Stoff war, deckten sie sich abends zu und da diese nur zwei oder dreimal im Jahr gesäubert wurde, gab es in den Baracken nach und nach immer mehr Ungeziefer wie Wanzen und Flöhe.31 Hygienemangel gab es auch bei den Waschbecken, denn diese dienten nicht nur allein der Körperhygiene, sondern auch zum Abwasch generell und wurden dennoch selten gereinigt.32 Den Arbeitern stand nur kaltes Wasser zur Verfügung, denn sie mussten ohne Ofen auskommen.33 Zusätzlich mussten die Zwangsarbeiter mit nur einem kleinen Stück Seife auskommen, welches für mehrere Wochen ausreichen musste.34 Auch Kleidung war Mangelware bei den Zwangsarbeitern. Richtige Arbeitskleidung war nicht vorhanden und auch Schuhe waren oft alt, kaputt, zu klein oder waren selber aus Abfällen zusammengeflickt worden.35 Wenn es im Winter kalt wurde, besaßen sie keinen Mantel, sondern hüllten sich in Decken ein und machten sich so auf den Weg zur Arbeit.36 Dadurch, dass die Zwangsarbeiter auch nur in den Anfangsjahren, also von 1940-1942 Lohn (wenn auch gering) bekamen und ab 1943 nicht mehr bezahlt wurden, konnten die Arbeiter sich auch nie Kleidung oder sonstiges leisten.37 Viele der Zwangsarbeiter bekamen auch nicht genug zu essen und litten unter Unterernährung. Auch sollen die Arbeiter oft nur bereits verdorbenes Essen bekommen haben, wodurch es bei den männlichen Arbeitern 1943 zu einem Hungerstreik kam.38 In einem Bericht einer Zeitzeugin heißt es:

Aus der Bonner Zeit erinnere ich mich am besten an den Hunger. Das war schrecklich, ein junger Organismus, die auszehrende Arbeit und fast nichts zu essen. Am Ende haben wir sogar die Kohlrübensuppe nicht mehr bekommen; wir wurden angewiesen, Brennnesseln zu sammeln und mit Spreu gemischt zu essen – das war unsere Ernährung.39

Dies waren also die Bedingungen, unter denen die Zwangsarbeiter der Jutespinnerei leben beziehungsweise überleben mussten, dabei war die Arbeit in der Fabrik extrem kräftezehrend. Ohne Schutzkleidung oder Schutzhandschuhe arbeiteten sie pro Schicht zwölf Stunden, alle unter 14 Jahren zehn Stunden.40 Während der Tagesschicht gab es eine kleine Unterbrechung und es wurde „Lagersuppe“ verteilt, während den Nachtschichten gab es jedoch kein Essen.41 Der Essensmangel, die schlechten hygienischen Zustände in den überfüllten Wohnbaracken und die körperlich anstrengende Arbeit führten dazu, dass viele der Zwangsarbeiter krank wurden und sich in einem schlechten Gesundheitszustand befanden. Die Zwangsarbeiter wohnten nämlich auf engsten Raum,  so dass sich Krankheiten sehr schnell verbreiteten. Aufgrund der noch vorhandenen Versichertenkarteien polnischer Zwangsarbeiter, die die AOK Bonn nach dem Krieg übernahm und aufbewahrte, weiß man, welche Erkrankungen bei den Arbeitern am häufigsten auftauchten.42 Viele Zwangsarbeiter zogen sich während der Arbeit Verletzungen zu, häufig aufgrund fehlender Schutzkleidung am Arbeitsplatz, litten unter Hautentzündungen oder fieberhaften Infekten, andere litten an Magenkrankheiten, Erkrankungen der Atemwege oder unter psychischen Problemen.43 Zeitzeugen berichteten auch davon, dass einige Arbeiter an Tuberkulose erkrankten und sogar daran starben, wie die junge Janina Korzonek oder auch Jadwiga [Jadzia] Pawlowska.44 Teilweise fügten die Arbeiter sich auch selbst Verletzungen zu (zum Beispiel Hände mit Essigsäure behandeln), damit sie für ein paar Tage nicht zur Arbeit gehen mussten.45 Doch vor allem nachdem Mitte November 1944 das Durchgangs- und Auffanglager des Gauarbeitsamtes auf dem Jutefabrikgelände und den Wohnbaracken errichtet worden war, verschlimmerten sich die Wohn- und damit auch die Krankheitszustände der Menschen enorm, denn viele der Menschen, unter ihnen auch Kinder, waren krank und steckten andere an.46 Mit 640 Menschen waren die Baracken „völlig überbelegt“.47 Da bis auf wenige Ausnahmen alle auf dem Beueler Friedhof bestatteten Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in den Jahren 1944 oder 1945 starben wird vermutet, dass es sich hier hauptsächlich um „Menschen aus dem Ostarbeiter-Durchgangslager“ handelt.48

Zeitzeuginnen berichteten auch von Demütigungen, Schikanen und Gewalt, die sie in ihrer Zeit als Zwangsarbeiterinnen in der Jutespinnerei erlebt haben. Vor allem die Lagerleiterin Frau Tomatzki schien die Arbeiterinnen regelmäßig schikaniert und gequält zu haben, denn „sie pflegte sie eine Stunde früher als nötig zu wecken, überschüttete sie mit kaltem Wasser, schimpfte mit ihnen im gebrochenen Polnischen, nahm ihnen die Lebensmittel weg und schlug ihnen mit einem großen Schlüsselbund gegen den Kopf“.49 Die polnische Zeitzeugin Teodozja Gmiter aus Sieradz berichtete zudem von einem Meister der Jutespinnerei, den sie alle damals spöttisch ‚Los, Los‘ nannten.50 Sie berichtete folgendes:

Er war uns gegenüber grausam. Wenn man an der Maschine kurz einschlief oder eines der Mädchen schwach wurde, schlug er mit einem Stock; wir wurden von ihm getreten oder mit kaltem Wasser begossen. Später erschien während der Nachtschicht der Vorarbeiter Kaczmarek (ein Pole aus Zdunksa Wola) und behandelte uns wie der ‚Los, Los‘, manchmal noch schlechter.“51

Andere Zeitzeuginnen berichten davon, wie die Frauen auf dem Weg zur Arbeit „von Kindern mit Steinen beworfen und als ‚Schweinepolacken‘ beschimpft wurden“.52

Das Schicksal von Jadwiga Pawlowska

Auf dem Beueler Friedhof am Platanenweg liegen zwar vierzig Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen der Jutespinnerei und zwanzig Kinder begraben, jedoch konnte bis heute nur das Schicksal einer Zwangsarbeiterin aufgedeckt werden, das der jungen Jadwiga [Jadzia] Pawlowska, die im März 1943 verstarb. Eine ehemalige Zwangsarbeiterin berichtete von ihrer Erkrankung und ihrem Tod:

Es war Sommer, Hitze, Nachtschicht – die Fenster waren dicht zugemacht wegen der Verdunkelung. Ab und zu wurde mir schlecht wegen der stickigen Luft und der Wärme; Kaczmarek und ‚Los, Los‘ [so wurde ein Meister genannt] hatten uns zur Strafe mit kaltem Wasser begossen. Von diesem eiskalten Wasser erkältete sich Jadzia [Jadwiga Pawlowska], bekam rote Hautflecken, wurde schwach. Kaczmarek und ‚Los, Los‘ erlaubten uns nicht, einen Arzt aufzusuchen. Nach einigen Tagen fing Jadzia an zu husten und Blut zu spucken; sie bekam auch hohes Fieber. Dennoch wurde sie nicht zum Arzt geschickt, es gab für sie keine Arzneimittel, nicht einmal Aspirin. Als sie am Ende von einer schrecklichen Blutung befallen wurde, hat man sie in ein Isolierzimmer geschickt; es war ein kleiner und schwüler Raum, wo nur ein Etagenbett hineinpasste. Dort lag sie. Während wir bei der Arbeit waren, konnte ihr keiner auch nur ein Glas Wasser reichen. Am dritten Tag starb sie.53

Die Kinder von Zwangsarbeiterinnen

Die Kinder der Zwangsarbeiterinnen der Jutespinnerei wurden tagsüber betreut, während ihre Mütter zur Arbeit gingen, jedoch waren alleinerziehende Arbeiterinnen kurz vor Ende des Krieges dazu verpflichtet ihre Kinder in der im Sommer 1944 errichteten „Ausländer-Pflegestätte Alfter“ zur Betreuung abzugeben.54 Es ging darum „‚schlechtrassige‘ Kinder in Kindersammelstätten zusammenzufassen“, denn „um den Arbeitseinsatz von Ostarbeiterinnen nicht zu behindern, waren Mutterschaften unerwünscht“.55 Amtsärztliche Berichte berichteten 1944 davon, dass von 32 Kindern bereits 11 gestorben waren und weitere Untersuchungen zeigten, dass lediglich 3 von 18 Kindern sich in einem einigermaßen guten Gesundheitszustand befanden.56 Viele Schicksale verstorbener Kinder von Zwangsarbeiterinnen der Jutespinnerei können jedoch bis heute nicht erschlossen werden.

Die Jutespinnerei heute

In der ehemaligen Jutefabrik befindet sich heute die „Schauspielhalle Beuel“ und seit Oktober 2016 auch das Pantheon-Theater und wird seitdem in erster Linie für kulturelle Zwecke genutzt. Seit dem 12. März 1999 steht die Fabrikanlage unter Denkmalschutz und wurde in die Denkmalliste aufgenommen, dank des hartnäckigen Einsatzes des Denkmal- und Geschichtsvereins Bonn-Rechtsrheinisch.57

Gedenkstele und Gräberfelder für Zwangsarbeiter auf dem Friedhof Platanenweg in Bonn-Beuel

Doch nicht nur auf dem Gelände der Jutefabrik wird an das Schicksal der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen erinnert. Auf dem Friedhof am Platanenweg in Beuel wurde 2016 eine Stele aufgestellt, auf der an gestorbene Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen  gedacht wird. Sie ist Teil eines größeren Gräberfeldes, auf dem Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen sowie Kinder begraben liegen. Der Friedhof ist nicht abgelegen und sowohl mit Auto als auch mit Straßenbahn gut zu erreichen. Das Gräberfeld besteht aus Gräbern von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen aus Polen und der Sowjetunion, vor allem der Ukraine, die in der Jutespinnerei Beuel arbeiten mussten und dort, meistens zum Kriegsende hin, gestorben sind. 

Das Feld besteht aus 40 Grabplatten auf denen verschieden vollständige biographische Angaben über die gestorbenen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen gemacht wurden. Die vollständigsten Platten beinhalten sowohl Vor- als auch Nachnamen der Gestorbenen sowie ihr Geburts- und Sterbejahr. Bei einigen Platten fehlen allerdings entweder der Vorname oder das Geburtsjahr, in einem Fall ist auch das Sterbejahr unbekannt. Zusätzlich gibt es eine Platte mit Namen von 20 russischen und polnischen Kindern, die dort ebenfalls begraben wurden. Jahre von Geburt und Tod sind für sie nicht vermerkt. Dabei werden alle sowjetischen Kinder als „russisch“ bezeichnet, obwohl ein großer Teil der sowjetischen Kinder eigentlich ukrainisch waren. Diese „Russifizierung“ der sowjetischen Opfer tritt bei Gedenkorten in Deutschland häufig auf. Alle Platten sind in den Boden eingelassen, obwohl dies eine neuere Entwicklung ist. Ursprünglich standen sie ein Stück aus dem Boden hervor. Vermutlich wurde dies aber geändert, um das Mähen der Rasenfläche zu ermöglichen.58 Sie werden vom Friedhof selber nicht oder nur wenig gepflegt, manche Platten sind leicht überwuchert und auf einigen lässt sich die Schrift kaum noch entziffern. Der einzige Name, zu dem mehr bekannt ist, ist der von Jadwiga Pawlowska (auf dem Gräberfeld als Jadwik Bawlocka begraben).

Das Gräberfeld wurde vermutlich in den 50er Jahren angelegt. Den Auftrag erteilte die Stadt Beuel, ausgeführt wurde er von einem ansässigen Steinmetz.59 Dass es keine Beteiligung von Seiten der Sowjetunion am Gräberfeld gab lässt sich auch anhand der lateinischen und teilweise falschen Schreibweise der Namen erkennen. Die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen starben zwischen 1941 und 1945, die meisten (36) aber in den letzten beiden Kriegsjahren. Das Alter variiert dabei stark. Neben den Kindern liegen auch Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen dort begraben, die in ihren 20ern starben, aber auch viele ältere Menschen und alle Jahrgänge dazwischen. Keine Altersgruppe macht dabei einen auffallend großen Teil der Begrabenen aus. Die ganze Anlage befindet sich zwar in unmittelbarer Nähe zum Friedhof für die gefallenen deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg, steht aber in keinem direkten Zusammenhang zu ihr. Auch die Sicht auf diesen Teil des Friedhofs wird durch Bäume und Hecken verhindert. Insgesamt ist die Anlage sehr mittig im Friedhof platziert, aber in keinster Weise ausgeschildert oder ähnliches, wenn man nicht weiß, wonach man sucht, ist es sehr leicht sie zu übersehen. Zusätzlich zu den Platten wurde 2016 eine Gedenkstele direkt vor dem Feld errichtet. Auf der Vorderseite der Stele befindet sich folgender Text:

Fern ihrer Familie und ihres Zuhauses befinden sich hier die Gräber von 40 Frauen und Männern und 20 Kindern auf Osteuropa, die in den Kriegsjahren in Beuel verstarben. Nachdem die deutsche Wehrmacht ihre Heimatländer überfallen hatte, wurden sie, wie viele hunderttausend andere nach Nazideutschland verschleppt. Unter elendesten Bedingungen mussten sie hier Zwangsarbeit leisten. Daran gingen sie zugrunde und erlebten die Befreiung nicht. Wir gedenken ihrer und lassen uns von den vielen Millionen Opfern dieser Zeit mahnen: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!

Durch die deutsche Inschrift der Stele und der lateinischen Schreibweise der ukrainischen bzw. russischen Namen wir deutlich, dass sich sowohl Platten als auch Stele primär an die Bewohner Beuels und Bonn richtet. Ohne Kenntnisse der deutschen Sprache wäre sie nicht lesbar. Das bei einem Text dieser Art die Täter (in diesem Fall die Wehrmacht) klar benannt werden ist bemerkenswert, da normalerweise der Fokus nur auf den Opfern liegt und die Täter verschwiegen werden.

Auf der linken und rechten Seite sind je 10 der Kindernamen von der Platte im Boden vermerkt, auf der Rückseite befindet sich klein eine Information zum Hintergrund der Stele. Sie geht auf das Engagement der „Beueler Initiative gegen Fremdenhass“ zurück und wurde durch Spenden finanziert.

Das Design stammt vom benachbarten Steinmetzmeister Michael Naundorf, der die Stele auch herstellte. Die Stele wurde mit einer Höhe konzipiert, die Aufmerksamkeit auf das ansonsten leicht übersehbare Feld lenken würde. Sie besteht dabei aus einem Kalkstein aus Deutschland. Der Verzicht auf Importmaterialien war laut Michael Naundorf beabsichtigt. Auf Augenhöhe befindet sich eine Umrandung aus Stacheldraht, der einen  Bezug zum Lager herstellen soll. Die einzelnen Teile der Stele sind dabei nicht ganz gerade aufeinander aufgesetzt, sondern leicht versetzt. Dies soll das Herausreißen der Zwangsarbeiter aus ihrem normalen „geraden“ Leben symbolisieren. Dass die Stele oben nicht glatt abschließt, sondern wie abgebrochen aussieht, steht für die abgebrochenen Lebensläufe der Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen.60

Der Ort war zwar 2006 schon Teil der Ausstellung „Wieder das Vergessen. Erinnerungsorte in Beuel“, wurde jedoch von Susanne Rohde erst 2014 wiederentdeckt. „Die Wiese und die Grabplatten waren in einem fürchterlichen Zustand.“61 Die Initiative säuberte die Platten daraufhin und hielt eine erste Gedenkfeier für die Opfer ab. 2015 begannen sie mit der Sammlung von privaten Spenden für die Errichtung der Stele. „Wir möchten einen würdigen Erinnerungsort für die Zwangsarbeiter schaffen. Die Stele soll auf das Gräberfeld hinweisen und erklären, was es ist. Zudem soll die Geschichte der Zwangsarbeiter erzählt werden“,62 erklärte Susanne Rohde das Ziel der Stele. Sie wurde am 1. September, dem Tag des deutschen Überfalls auf Polen, 2016 eingeweiht, wozu eine Gedenkfeier abhalten wurde. Während dieser trugen die Schüler einer Beueler Polnischlehrerin Texte zum Gedenken an die Zwangsarbeit*innen und die Opfer des Nationalsozialismus vor. An dieser Feier nahm auch die Bürgermeisterin Angelica Maria Kappel teil und betonte die Bedeutung von Gedenkprojekten wie diesem.63 Zeitzeugen oder Angehörige waren nicht anwesend, allerdings wurden Fotos der Gedenkfeier Angehörigen eines Opfers in Polen geschickt, diese seien „sehr gerührt“ gewesen.64

Laut Susanne Rohde sei die Resonanz für das Engagement der Initiative in der Beueler Bevölkerung positiv aufgenommen worden, vor allem durch Steinmetz Naundorf, der seine Unterstützung zugesagt habe, auch wenn die eingeplante Summe von 3000 Euro nicht zustande gekommen wäre. Von Seiten der Politik hätte das Projekt zwar viel Zustimmung erfahren, wirklich interessiert hätte es allerdings keine der Fraktionen in Beuel, es sei „hingenommen, aber nicht aktiv unterstützt“ worden.65 Der bürokratische Prozess zum Aufstellen der Stele sei problemlos abgelaufen. Kritik gab es lediglich von konservativeren Kreisen über die konkrete Formulierung auf der Stele.

Aktuelle Gedenkpraktiken finden immer noch statt. Susanne Rohde vermutet, dass die  Klasse der Polnischlehrerin, deren Schüler*innen bereits bei der Einweihung mitgewirkt hatten, die Platten regelmäßig besuchen. Auch hing bei einem Besuch der Stele im November ein Georgsbändchen an der Stele, was auch Gedenkrituale für die sowjetischen Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen vermuten lässt. Bis jetzt ist es nicht gelungen herauszufinden, von wem genau es stammt, aber es zeugt von einer aktiven Gedenkpraxis auch von russischer Seite.


1 Vgl. Altman-Radwanska: Polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Bonn während des Zweiten Weltkrieges. Beschäftigungsbereiche, Arbeitsleistung und Behandlung, in: Dahlmann, Dittmar; Kotowski, Albert S.; Schloßmacher, Norbert; Scholtyseck, Joachim (Hrsg.): Zwangsarbeiterforschung in Deutschland, Essen 2010, S. 215-229, hier S. 223f.

2 Vgl. Hildt, Julia; Lenz, Britta: „Ostarbeiterinnen schlagen gut ein…“. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Ukraine, Russland und Weißrussland in Bonn 1941-1945, in: Dahlmann, Dittmar; Kotowski, Albert W.; Schloßmacher, Norbert; Scholtyseck, Joachim (Hrsg.): „Schlagen gut ein und leisten Befriedigendes“. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Bonn 1940-1945, Bonn 2006, S. 21-123, hier S. 58.

3 Ebd., S. 56.

4 Vgl. Altman-Radwanska, Jolanta: „Zwangsbonnerinnen“. Erinnerungen polnischer Frauen nach 50 Jahren, in: Kuhn, Annette (Hrsg.): Frauenleben im NS-Alltag. Bonner Studien zur Frauengeschichte, Pfaffenweiler 1994, S. 321-363, hier S. 331.

5 Vgl. Altman-Radwanska, Jolanta: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn. Eine Fallstudie mit Beispielen aus der Beueler Jutespinnerei, in: Dahlmann, Dittmar; Kotowski, Albert W.; Schloßmacher, Norbert; Scholtyseck, Joachim (Hrsg.): „Schlagen gut ein und leisten Befriedigendes“. Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Bonn 1940-1945, Bonn 2006, S. 125-172, hier S. 144.

6 Vgl. ebd.

7 Vgl. ebd.

8 Vgl. ebd.

9 Vgl. Altman-Radwanska: „Zwangsbonnerinnen“, S. 329.

10 Vgl. ebd.

11 Vgl. ebd., S. 330.

12 Vgl. Hildt; Lenz: „Ostarbeiterinnen schlagen gut ein…“, S. 56.

13 Vgl. ebd.

14 Vgl. ebd.

15 Stadtarchiv Bonn Be 2579 (Schreiben der Vereinigten Jute-Spinnereien und –webereien an den Bürgermeister von Beuel am 20.12.1942).

16 Hildt; Lenz: „Ostarbeiterinnen schlagen gut ein…“, S. 56.

17 Vgl. ebd., S. 58.

18 Vgl. ebd.

19 Vgl. Altman-Radwanska: Polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Bonn, S. 224.

20 Vgl. ebd.

21 Vgl. ebd.

22 Vgl. Altman-Radwanska: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn, S. 141.

23 Vgl. ebd.

24 Vgl. Altman-Radwanska: Polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Bonn, S. 224.

25 Vgl. Altman-Radwanska: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn, S. 141.

26 Stadtarchiv Bonn Be 1355.

27 Altman-Radwanska: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn, S. 78./siehe auch Seebacher, Johanna: „Vor Maschinen stelle ich keine deutschen Frauen.“ Ausländische Zwangsarbeiterinnen in Bonn 1939-1945, in: Kuhn, Annette (Hrsg.): Frauenleben im NS-Alltag. Bonner Studien zur Frauengeschichte, Pfaffenweiler 1994, S. 97-131, hier S. 111.

28 Altman-Radwanska: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn, S. 154f.

29 Vgl. ebd, S. 155.

30 Vgl. ebd.

31 Vgl. ebd.

32 Vgl. ebd.

33 Vgl. Altman-Radwanska: „Zwangsbonnerinnen“, S. 333.

34 Vgl. Altman-Radwanska: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn, S. 155.

35 Vgl. Altman-Radwanska: Fotos polnischer Zwangsarbeiterinnen aus Beuel, in: Bonner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): „Die Beueler Seite ist nun einmal die Sonnenseite…“, Bonn 1996, S. 96-102, S. 99.

36 Vgl. ebd.

37 Vgl. Altman-Radwanska: Polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Bonn, S. 225.

38 Vgl. ebd.

39 Zitiert nach: Altman-Radwanska: „Zwangsbonnerinnen“, S. 333.

40 Vgl. Altman-Radwanska: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn, S. 155.

41 Vgl. ebd.

42 Vgl. ebd., S. 157.

43 Vgl. ebd., S. 157f.

44 Vgl. ebd., S. 160f.

45 Vgl. ebd., S. 158.

46 Vgl. Vogt, Helmut: Die Beueler Jutespinnerei und ihre Arbeiter 1868-1961. Ein Beitrag zur Industriegeschichte des Bonner Raumes, Bonn 1990, S. 169f.

47 Ebd., S. 170.

48 Ebd., S. 171.

49 Vgl. Altman-Radwanska: Fotos polnischer Zwangsarbeiterinnen aus Beuel, S. 100.

50 Vgl. Altman-Radwanska: „Zwangsbonnerinnen“, S. 331.

51 Zitiert nach: ebd.

52 Vgl. Altman-Radwanska: Fotos polnischer Zwangsarbeiterinnen aus Beuel, S. 97.

53 Zitiert nach: Altman-Radwanska: Polnische Zwangsarbeiter in Bonn, S. 161.

54 Vgl. Vogt: Die Beueler Jutespinnerei und ihre Arbeiter 1868-1961, S. 168.

55 Ebd.

56 Vgl. Ebd.

57 https://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/beuel/jutespinnerei-ist-jetzt-schauspielhalle_aid-42584639, aufgerufen am 9. 01. 2020.

58 Interview mit Susanne Rohde am Montag, 16. Dezember 2019.

59 Interview mit Michael Naundorf am Dienstag, 28. Januar 2020.

60 Gespräch mit Michael Naundorf am 28. Januar 2020.

61 https://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/beuel/beueler-initiative-gegen-fremdenhass-sucht-unterstuetzer_aid-42645597

62 Ebd.

63 https://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/beuel/gedenken-an-tote-zwangsarbeiter_aid-43011379

64 Interview mit Susanne Rohde am Montag, 16. Dezember 2019.

65 Interview mit Susanne Rohde am Montag, 16. Dezember 2019.