Warum wir das Kloster Endenich nicht kennen – eine Leerstelle im Wandel

von Hera Shokohi

Auch Endenich

Ist noch vielleicht das Ende nich!

Was in den letzten Monaten gegen die Juden geschehen ist, erweckt begründete Angst, dass man uns einen für uns erträglichen Zustand nicht mehr erleben lassen wird.1

Diese Zeilen schrieb der Bonner Mathematiker Felix Hausdorff am 25. Januar 1942 an seinen Freund Hans Wollstein. Bei den zitierten Zeilen handelt es sich um einen Auszug aus dem Abschiedsbrief, welcher von Hausdorff verfasst wurde, kurz bevor er sich zusammen mit seiner Frau und ihrer Schwester das Leben nahm. Hausdorff und seine Angehörigen verstarben am 26. Januar, einen Tag nach dem Verfassen des Briefes. Der Grund für den Suizid war die Anordnung der Nationalsozialisten, dass jegliche jüdische Restbevölkerung, die bis dahin noch nicht vertrieben war, in das Endenicher Lager übersiedeln musste. Doch Endenich „ist noch vielleicht das Ende nich“ — und Hausdorff war sich bewusst, dass die Zwangsumsiedlung nach Endenich nichts Gutes bringen würde. In diesem Brief bat er Wollstein, einen jüdischen Bonner Rechtsanwalt darum, sich um die Bestattung von ihm und seiner Familie zu kümmern. Familie Hausdorff wünschte sich, mit Feuer bestattet zu werden — doch diesem Wunsch konnte Wollstein nie nachkommen, da er selbst festgenommen und deportiert wurde. Wollstein wurde in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager ermordet.2  Endenich war das Ende nich, da von dort aus die letzten jüdischen Menschen in Bonn die Deportation in die Vernichtungslager im Osten antraten. Der letzte Ort vor der Ermordung: Das Kloster Mariahilf der Benediktinerinnen der Ewigen Anbetung in Bonn-Endenich. 

Kloster Endenich: Die Anfänge

Die ersten Anfänge der Geschichte des Klosters lassen sich auf das 15. Jahrhundert datieren, als die erste Kapelle auf dem Kreuzberg in Endenich gebaut wurde.3 Die Gründung des Ordens der Benediktinerinnen der Ewigen Anbetung des Heiligen Sakraments 1653 führte dazu, dass sich im 19. Jahrhundert auch die ersten Benediktinerinnenorden Deutschland bildeten. So wurde 1719 vom Propst Maximilian von Weichs ein Grundstück in Endenich für einen weiteren Kapellenbau erworben, 1721 wurde diese Kapelle — die Marterkapelle, die heute noch steht — vom Kurfürst Joseph Clemens eingeweiht.4 Das erste Kloster der Benediktinerinnen, nämlich das Kapuzinerkloster, befand sich in der Nähe der Brüdergasse und der heutigen Oper.5 1802 wurde das Kloster aufgelöst und ab 1804 wurden in dem Gebäude eine Spinnerei und Weberei betrieben.6 Die Benediktinerinnen übernahmen 1857 eine neue Klosteranlage, wurden jedoch 1875 im Rahmen des bismarckschen Kulturkampfs vertrieben. Somit waren die Schwestern gezwungen, das Kloster abzutreten. Sie fanden bis 1888 in einem Kloster in Utrecht Unterkunft bis sie 1887 nach einem Kauf eines Klostergrundstücks in Endenich 1888 wieder nach Bonn zurückkehren konnten. Am 22. Januar 1888 waren alle Schwestern aus Utrecht zurück und das Kloster steht bis heute noch. 

Der Zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus

Den Ersten Weltkrieg überstanden die Benediktinerinnen in Endenich ohne große Schwierigkeiten: Das Klostergebäude nahm keine großen Schäden, das einzige Problem war die Beschaffung von Lebensmitteln und Kleidung in den letzten Kriegsmonaten.7 Ab der Machtübernahme der Nationalsozialisten sahen sich die Benediktinerinnen mehreren Problemen ausgesetzt. So durften sie am 12. November 1933 nicht wählen, bekamen aber kurz vor Ende der Wahlen von Beamten Wahllisten überbracht, da die NSDAP nicht auf ihre Stimmen nicht verzichten wollte.8  Im Oktober 1934 wurde der vorgeschriebene Eintopf-Sonntag eingeführt, 1935 wollten die Schwestern ein neues Kloster in Ostpreußen gründen — diese Pläne wurden jedoch von der Regierung abgelehnt.9 Im Juli 1936 fassten die Nationalsozialisten den Beschluss, den Klostergarten an sich zu reißen und ihn für militärische Zwecke zu nutzen. Nach mehreren Bittprozessionen der Benediktinerinnen kam es zu einer Änderung des Plans: Die geplante Kaserne wurde in Duisdorf gebaut.10 Ab November 1939 bekam das Kloster von einem NSDAP-Mann weltanschaulich-ideologischen Unterricht.11 Im selben Jahr kamen Gerüchte auf, dass eine Beschlagnahmung des Klosters bevorstehen würde. Diese Beschlagnahmung fand schließlich am 20. April 1941 statt: Gegen 11 Uhr kamen sechs Gestapo-Leute und befahlen den Benediktinerinnen das Kloster in einer Stunde zu räumen. Es standen Busse bereit, die sie zu anderen Klöstern oder Krankenhäusern in der Umgebung bringen sollten.12 Somit hatten die Nationalsozialisten nun die Macht über das Klostergebäude. 

Kloster Endenich als Sammellager für jüdische Bonner:innen

Das beschlagnahmte Klostergebäude nutzten die Nationalsozialisten ab Juni 1941 als ein Sammellager für die jüdischen Menschen in Bonn, die bis zu dem Zeitpunkt nicht ausgewandert waren. Im Januar und Februar 1942 wurden weitere Juden aus dem Landkreis Bonn in das Sammellager gebracht. Insgesamt gab es 474 Inhaftierte. Unter bestimmten Auflagen durften die Inhaftierten das Lager tagsüber verlassen, um in die Stadt zu gehen und zu arbeiten.13 Die ersten Abtransporte nach Köln fanden im Dezember 1941 und Januar 1942 statt, von Köln aus begann die Deportation in die Vernichtungslager im Osten. Endenich war „das Ende nich“, es war die Vorstufe der Vernichtung. Nur sieben der Deportierten überlebten. 

(Selbst-)geschriebene Geschichte – ungeschriebene Geschichte. Was von Endenich bleibt

Besichtigt man heute das Kloster in Endenich ist das einzige, was auf die Geschichte des Ortes als Lager verweist, eine Gedenktafel mit Inschrift an der Marterkapelle.

„Nach Vertreibung der Benediktinerinnen durch das NS-Regime diente dieses Haus 1941/1942 als Sammellager für 474 jüdische Mitbürger aus Bonn und Umgebung. Von hier traten sie den Gang in die Vernichtungslager an. Nur sieben sind als überlebend bezeugt.“ 

Diese Gedenktafel wurde am 8. November 1981 angebracht und in Anwesenheit des damaligen Bürgermeisters, Hans Daniels, und jüdischen Überlebenden enthüllt.14 2000 wurde das Kloster aufgrund von mangelndem Nachwuchs aufgelöst, heute befindet sich dort das Priesterseminar Redemptoris Mater. Nach vielen Jahren war die Gedenktafel in einem schlechten, ungepflegten Zustand und benötigte eine Restaurierung. Da sich lange Zeit niemand fand, der dieses Vorhaben finanzieren wollte, übernahm die SPD Endenich-Weststadt die Kosten und weihte die Tafel an Allerheiligen 2016 ein.15 Neben der Gedenktafel an die jüdischen Opfer befindet sich eine weitere Tafel, die den Benediktinerinnen gewidmet ist. Dort stehen der Name des Klosters und die Jahreszahlen 1888-2000; die Zeit, in der das Kloster bestand. An der Marterkapelle befindet sich zudem ein Aushang mit dem Titel „Kurze Geschichte der Marterkapelle“, welcher die Entstehungsgeschichte der Marterkapelle und des Klosters erzählt.

„Aufgrund ihres Bekenntnisses zu Christus wurden im Jahr 295 die römischen Soldaten der thebäischen Legion Cassius und Florentinus mit weiteren Gefährten enthauptet — hier am Fuße des Kreuzbergs. An der mutmaßlichen Hinrichtungsstätte errichtete Maximilian von Weichs, Propst des Bonner Cassius-Stifts, 1719 eine Kapelle zum Gedenken an das Martyrium der Bonner Stadtpatrone und Heiligen. Mit ihrer Weihe am 17. August 1721 durch Joseph Clemens, Erzbischof und Kurfürst von Köln, begannen die Wallfahrten zur Marterkapelle.“

Blickt man von der Marterkapelle aus zum Waldweg Richtung Kreuzberg, so sieht man ein Straßenschild, was dort hinzeigt. „Mordkapellenpfad — Legendärer Ort des Martyriums der Bonner Stadtpatrone Cassius und Florentinus (3. Jh.)“, heißt es auf dem Straßenschild. Rundherum und den Weg entlang findet sich ein Stationsweg mit mehreren Andachtsstationen für den Passionsweg Christi.

All diese Dinge machen eins deutlich: An diesem Ort wird die Geschichte des Klosters und die Geschichte des Christentums erzählt. In dem offiziellen Aushang, der die Geschichte des Ortes erzählt, hört das Narrativ 1721 auf, einen weiteren Aushang oder Ähnliches, was die Geschichte des Ortes erzählt, lässt sich nicht finden. Im Aushang findet sich kein Platz für die Geschichte der Benediktinerinnen und ihrer Vertreibung oder der Inhaftierten jüdischen Bevölkerung. Es scheint so, als gäbe es einen Unterschied zwischen einer (selbst-)geschriebenen Geschichte und einer ungeschriebenen Geschichte. In der ersten Geschichte gibt es keinen Platz für die Opfer des Nationalsozialismus — dies wird übrigens auch deutlich, wenn man einen Blick auf die Internetpräsenz des Priesterseminars Redemptoris Mater wirft. Dort gibt es eine Seite über die Geschichte des Klosters, welche ebenfalls 295 mit dem Martyrium von Cassius und Florentinus beginnt. In einem kurzen Abschnitt wird die nationalsozialistische Zeit thematisiert. Dieser trägt den Namen „Im und nach dem Zweiten Weltkrieg“ und thematisiert die Beschlagnahmung des Klosters und die Verwendung als Sammellager:

1892 wurde die ursprüngliche Marterkapelle um eine größere Kirche im neugotischen Stil erweitert. Während des Zweiten Weltkriegs mussten die Benediktinerinnen das Kloster verlassen, weil sich der NS-Staat der Klostergebäude bemächtigte. 1941-42 waren die Gebäude Zwischenstation von 474 jüdischen Mitbürgern aus Bonn und Umgebung auf dem Weg zu ihrer Ermordung. Nur sieben sind als Überlebende bezeugt. Nach Kriegsende, von Mai 1945 bis 2000 setzten die Ordensschwestern ihr Klosterleben in Endenich fort. Aufgrund von Überalterung und Nachwuchsmangel wurde das Kloster schließlich aufgegeben.“16 

Direkt darauf folgt ein Abschnitt mit dem Titel „September 2001“, welcher die Weiternutzung der Räumlichkeiten durch das Priesterseminar thematisiert.

Im September 2001 zog Redemptoris Mater Köln ein: „Wir wollen weiterführen, was andere gesät haben, und unser Leben als Priester im Dienst für die uns anvertrauten Menschen hingeben“, sagt Regens Salvador Pane Domínguez. Daher ziehen jedes Jahr die Endenicher Gemeinde und die Seminaristen im Gedenken an die Märtyrer Cassius und Florentinus gemeinsam in einer feierlichen Prozession am Sonntag, der auf den 10. Oktober folgt von der Pfarrkirche St. Maria Magdalena zur Marterkapelle. In dieser findet in der Regel außerdem jeden Donnerstag eine Gemeindemesse statt.17

Die sehr kurze Schilderung der nationalsozialistischen Zeit, in welcher die Geschichte der inhaftierten Juden in nur zwei Sätzen erwähnt werden — und dem Wortlaut der Gedenktafel entsprechen und es keine weiteren Informationen darüber gibt — und die offensichtliche Abwesenheit eines Gedenktages oder jeglicher Gedenkpraxis für die Opfer des Nationalsozialismus macht erneut deutlich, dass es in der (selbst-)geschriebenen Geschichte keinen — bzw. sehr spärlichen Platz — für die jüdischen Opfer gibt. Dabei ist die Geschichte von Endenich als Sammellager sehr gut dokumentiert. Man siehe zum Beispiel die Briefe von Ruth Herz, einem jüdischen Mädchen, welches während ihrer Zeit im Endenicher Lager viele Briefe an ihren Onkel schrieb, die bis heute noch erhalten sind und auch in der Dauerausstellung der Bonner Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus zu sehen sind. Zudem gibt es noch den zu Beginn des Beitrags zitierten Brief von Hausdorff sowie diverse Stolpersteine in Bonn, die Endenich erwähnen — so zum Beispiel die für Familie Herz in der Combahnstraße in Bonn-Beuel und die für Familie Levy am Martinsplatz, die alle auf einen Aufenthalt in Endenich hinweisen, um einige zu nennen. Wenn uns folglich die Namen, Lebensdaten und Aufenthaltsorte der Bonner Jüdinnen und Juden bekannt sind, wieso ist Endenich eine Leerstelle in unserem Gedächtnis?

Zwischen Leerstelle und Lehrstätte: Warum wir Endenich nicht kennen

Die mangelnde Manifestation dieses Gewaltortes in der Bonner Gedenkkultur ist mit zwei Faktoren verbunden: Der eine ist die Ambivalenz zwischen der (selbst-)geschriebenen Geschichte des Klosters, in der es keinen Platz für die Opfer gibt und der ungeschriebenen Geschichte; der eigentlichen Geschichte der Opfer und des Lagers, welche nicht im offiziellen Narrativ vor Ort vorkommt und getrennt davon präsentiert wird; man denke hierbei zum Beispiel an den Aushang über die Ortsgeschichte, in dem das Lager Endenich nicht thematisiert wird. Der andere Faktor der dazu führt, dass Endenich (noch) eine Leerstelle ist, liegt im work-in-progress Charakter seiner Musealisierung. An der Bonner Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus wird gerade über die Lagergeschichte geforscht. Die NS-Gedenkstätte hat seit längerer Zeit den Wunsch, aus der Franziskanerstraße an einen historischen Ort zu ziehen. Anfang 2019 stimmte das Erzbistum Köln einem potentiellen Einzug der NS-Gedenkstätte in das Wirtschaftsgebäude des Klosters zu. Die NS-Gedenkstätte, welche schon die Schicksale vieler der in Endenich inhaftierten Opfer aufgearbeitet hat und sie in ihre Dauerausstellung mit aufgenommen hat, forscht dementsprechend vertieft über die Geschichte des Lagers. Die Akten zur Lagergeschichte werden gerade von den internen Mitarbeitern bearbeitet, sodass der Zugang zu den Dokumenten für die Externen momentan etwas schwer ist. Es wird sich zeigen,  ob ihnen es gelingt, nicht nur die Forschungslücke über dieses Kapitel der Klostergeschichte zu schließen, sondern auch diesen historischen Ort zu einer würdigen Stätte des Opfergedenkens, des Wissens und des Austausches zu etablieren.


1 Abschiedsbrief Felix Hausdorffs. In: Wikisource, https://de.wikisource.org/wiki/Abschiedsbrief_Felix_Hausdorffs Stand: 29.01.2020. 

2 Anerkannter Bürger endet im KZ. In: Westfalenpost, 09.01.2016. https://www.wp.de/staedte/herdecke-wetter/anerkannter-buerger-endet-im-kz-id11446383.html Stand: 29.01.2020.

3 Weffer, Herbert: Das Kloster Mariahilf und die Marterkapelle in Bonn-Endenich, Bonn 2001, S. 13.

4 Ebd., S. 14f. 

5 Ebd., S. 36.

6 Ebd., S. 37.

7 Ebd., S. 67.

8 Ebd., S. 76.

9 Ebd., S. 77.

10 Ebd., S. 78.

11 Ebd., S. 79.

12 Ebd., S. 84-86.

13 Ebd., S. 88.

14 Ebd., S. 89.

15 Rotkehlchen: Stadtteilzeitung der SPD für Endenich und Weststadt, Dezember 2016. https://static1.squarespace.com/static/5a0757db18b27d4c1ef53769/t/5ae422fb575d1fd630b351fd/1524900639111/RK2016-02.PDF Stand: 10.01.2020.

16 Erzbischöfliches Missionarisches Priesterseminar Redemptoris Mater Köln: Die Geschichte. https://www.erzbistum-koeln.de/institutionen/RM/der_ort/der_ort_und_seine_geschichte/ Stand 10.01.2020.

17 Ebd.