Nordfriedhof Siegburg – eine Forschungsnotiz

von Hannah Müller

Auf dem Siegburger Nordfriedhof befindet sich auf Feld E17 eine Kriegsgräberstätte für sowjetische und polnische Opfer, die während der Zeit des Nationalsozialismus in Siegburg ums Leben gekommen sind. Die Opfer waren nachgewiesener Weise Zwangsarbeiter, die aus ihrer Heimat verschleppt und in Deutschland zum Arbeitseinsatz gezwungen worden sind.1 Im Rahmen des Projektkurses „Leerstellen – Lehrstätten“ der Abteilung Osteuropäische Geschichte der Universität Bonn, wurde dieser Ort und die Geschichte seiner Opfer genauer erforscht.

Der Kontext des historischen Ortes

Die Menschen, die an der Kriegsgräberstätte auf dem Siegburger Nordfriedhof (Feld E17) liegen, waren Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion und Polen, die während des Krieges gegen die Sowjetunion (1941-1945) als Arbeitssklaven nach Deutschland verschleppt worden sind.2 Dass auch polnische Opfer in den Gräbern liegen, lässt sich aus einer Liste aus dem Siegburger Stadtarchiv erkennen.3 Insgesamt wurden 1217, in den Listen als „Russen“ ausgewiesen, in Siegburg zur Zwangsarbeit eingesetzt, wobei die meisten, nämlich 1080 in der als kriegswichtig eingestuften „Rheinische Zellwolle AG“ (Phrix) in Wolsdorf arbeiten mussten.4 Der Begriff „Russe“ ist an dieser Stelle allerdings falsch verwendet, denn unter den Zwangsarbeitern waren neben Russen und Polen vor allem auch Menschen aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion.5 Sie wurden wohl alle unter der Bezeichnung „Russe“ zusammengefasst.

In Siegburg befanden sich 12-19 Zwangsarbeitslager, „russische“ Zwangsarbeiter waren in sieben von ihnen untergebracht.6 Die Lager waren: 1. Hubertushof, ein Frauenlager mit 80 „russischen“ Zwangsarbeitern, 2. Lager Fleißig, in der Luisenstraße  mit russischen Kriegsgefangenen, 3. Zellwolle Ausländerlager mit 300 bis 400 polnischen und russischen Zwangsarbeitern, 4. Zellwolle „Braunes Lager“ mit 200 Kriegsgefangenen, darunter auch „Russen“, 5. Lager Kemp, Wolsdorf mit 100 bis 150 Zwangsarbeitern, auch „Russen“, 6. Städtisches Russenlager in der Humperdincksstraße 54 mit 33 „Russen“, 7. Städtisches Lager mit 12 „Russen“ und „Polen“.8 In den Lagern herrschten schlimme Bedingungen für die Zwangsarbeiter. Die meisten waren mangel- bzw. unterernährt, außerdem brachen viele Krankheiten (z.B. Lagertyphus) aus. Es kam hinzu, dass den osteuropäischen Zwangsarbeitern die Ausgabe von Medikamenten nicht gestattet war, bei Bombenangriffen durften sie nicht in die Schutzbunker. So kamen viele Zwangsarbeiter als Folge von Mangelernährung, Krankheiten oder auch Bombenangriffen ums Leben.8 Beerdigt wurden die umgekommenen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter auf dem Siegburger Nordfriedhof.9

Geschichte der Gedenkstätte

Die Kriegsgräberstätte auf dem Nordfriedhof in Siegburg wurde wahrscheinlich etwa 1946/47 von Kameraden der umgekommenen sowjetischen und polnischen Zwangsarbeitern errichtet.10 Genaue Archivdaten gibt es darüber allerdings nicht. Es handelt sich um 108 Einzelgräber und ein größeres Massengrab mit unbekannten Opfern. Die Grabsteine wurden ursprünglich aus Trümmerschrott angefertigt.11 Der Zugang zum Friedhof wurde wohl schon, trotz des strikten Verbots der nationalsozialistischen Stadtverwaltung, während des andauernden Krieges, durch den Friedhofverwalter und seine Frau, auch Zwangsarbeitern gewährt.12  In den 1920er Jahren war der Abschnitt, auf dem sich heute die Grabanlage befindet, der jüdischen Gemeinde als Erweiterung des jüdischen Friedhofes zugeschrieben worden. Entsprechende Verträge wurden in den 1920er Jahren unterschrieben. Durch den Nationalsozialismus und die Deportation der jüdischen Bevölkerung, blieb die Anlage unbenutzt. So konnte sie später den sowjetischen Zwangsarbeitern als rt der Beisetzung ihrer Kameraden zur Verfügung gestellt werden.13 

Die Gedenkstätte

Die Gedenkstätte befindet sich auf dem Feld E17 links des Eingangs, ziemlich am Ende des Siegburger Nordfriedhofs. Der Zugang zu der Stätte ist zwar ausgeschildert, allerdings durch die Verzweigungen auf dem Friedhof erschwert. Da sie sich am Ende des Friedhofs befindet, ist der Weg dorthin auch recht weit. Allerdings befinden sich in dieser Ecke des Friedhofs auch andere Stätten von Opfern aus dem Zweiten Weltkrieg, wie der der politischen Verfolgten. Die Grabsteine, ohne Grabverzierungen, sind in fünfer Reihen auf dem Feld angeordnet. Es handelt sich um eine Rasenfläche. Am Ende des Feldes steht eine Stele mit kyrillischer Inschrift vorne darauf.

Auf der rechten Seite der Stele ist die Inschrift auch in deutscher Schrift zu lesen: „Das Ewige Gedenken an unsere Kameraden, gefallen in der faschistischen Unfreiheit 1941 – 1945“. Obendrauf angebracht ist ein Stern mit dem sowjetischen Wappen – Hammer und Sichel. Die ganze Anlage wirkt sehr alt, und manche Grabinschriften sind mit Moos bewachsen und daher nicht mehr richtig zu erkennen.14

Eine „russische Kriegsgräberstätte“?

Auf einem Wegweiser am Eingang des Nordfriedhofs ist die Grabanlage als „russische Kriegsgräberstätte“ ausgewiesen.

Diese Bezeichnung trifft allerdings bei genauer Betrachtung der Opfergruppe nicht zu. Zum einen sind aus Namenlisten zu erkennen, dass es sich nicht ausschließlich um russische Opfer handelt, sondern auch Opfer aus anderen sowjetischen Republiken wie der Ukraine, Georgien, Belarus und Armenien. Zudem sind auch mindestens drei polnische Zwangsarbeiter unter den Opfern. Auch waren es nicht ausnahmslos Soldaten, die in Kriegsgefangenschaft geraten sind und so in Siegburg Zwangsarbeit leisten mussten, sondern auch Zivilisten, die nach Deutschland verschleppt worden sind und hier umkamen. Bezüglich der Zahlen gibt es unterschiedliche Angaben. Laut des Siegburger Stadtarchivs sollen insgesamt 66 Soldaten und 36 zivile Zwangsarbeiter, darunter 16 Frauen/Mädchen sowie zehn Unbekannte in den Gräbern liegen. Andere Quellen sprechen ebenfalls von 36 zivilen Zwangsarbeitern, darunter auch drei Kinder, allerdings von 17 Unbekannten.15

Gedenkarbeit heute

2004/2005 wurde die Grabstätte von der Stadt Siegburg restauriert.16 Bereits 2002 hatte der aus St. Petersburg stammende Viktor Blumenfeld die Grabsteine zu reinigen und zu erneuern versucht. Außerdem hat er intensiv nach Angehörigen der Opfer gesucht. Bei der Suche nach den Angehörigen konnten lediglich zwei Soldaten ihren Familien zugeordnet werden. Über die Suche nach einer georgischen Familie wurde sogar ein Dokumentarfilm gedreht („Das Schicksal eines Soldaten“). Heute kümmern sich in Siegburg lebende Russen um die Gräber.17 So war die Stele bei einer der Besichtigungen mit Georgsbändchen18 geschmückt.19 Außerdem werden am Volktrauertag Kränze und Blumen von der Stadt Siegburg sowie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten und der LINKEN Siegburg niedergelegt. Stadtrat R. Schoene (die LINKE) teilte mit, dass es typisch für linke Akteure sei, dass sie sich um diese Opfergruppe, Verfolgte durch das Naziregime aus ehemalig kommunistischen Ländern, bemühen und sich am Volkstrauertag an sie erinnern.  Die übrige Bevölkerung würde das Augenmerk eher auf deutsche Opfer legen. Seit einigen Jahren habe sich das aber verändert. Auch die Siegburger Bevölkerung erinnert seit einigen Jahren am Volkstrauertag nicht nur an die deutschen Opfer der beiden Weltkriege, sondern an alle Opfer aller Kriege.20 Auch besuchte 2017 die russische Eishockeynationalmannschaft am 9. Mai (Tag des Sieges) die Grabstätte. Grund dafür war, dass zu dieser Zeit die Eishockey Weltmeisterschaft in Köln stattgefunden hat und die russischen Eishockey-Spieler mit ihren Familien so die Gelegenheit bekamen, einen solchen Ort, an dem eben auch russische Opfer der NS-Gewalt beerdigt worden sind, zu besuchen. Die Begehung scheint sehr patriotisch aufgeladen gewesen zu sein, denn die Mannschaft zog mit russischen Fahnen zu der Grabstätte.21 

Bestimmte Tage, wie der Volkstrauertag (durch die deutsche Bevölkerung) und der Tag des Sieges in Russland (durch russische Akteure), Tag des Gedenkens und der Trauer (22. Juni), sowie der Gedenktag für den Unbekannten Soldaten am 3.Dezember (durch russische Akteure)22 VERLINKUNG ZU MT2 scheinen Anlässe zu sein, zu denen der Opfer gedacht wird. 

Schlussfolgerung

Die Beschilderung in Siegburg zur „russischen Kriegsgräberstätte“ ist also fehlerhaft und entspricht nicht dem tatsächlichen multinationalen Charakter der Opfergruppe aus der Sowjetunion und aus dem östlichen Europa. Meine Nachforschungen haben ergeben, dass es schwierig ist, Informationen über den Ort herauszufinden. Die Erinnerung an diese Opfer scheint in der Stadt Siegburg nicht so präsent zu sein, wie die an die Verfolgte des NS-Regimes und Opfer der beiden Weltkriege. So finden sich kaum veröffentlichte Quellen zu den sowjetischen und polnischen Opfern auf Feld E17 auf dem Siegburger Nordfriedhof und vieles, wie die Errichtung der Stätte, ließe ich nur schwer rekonstruieren. Das Erinnern heute findet zwar statt, allerdings lässt sich auch darüber kaum etwas herausfinden, da sie wohl hauptsächlich von Privatpersonen mit einem Bezug zu Russland begangen wird. Offizielle Erinnerungen der Stadt Siegburg und anderer deutscher Akteure finden nur am Volkstrauertag statt. 


1 Zenker, Peter, Zwangsarbeit in Siegburg, online im Internet: www.peter-zenker.de, [zugegriffen am 24.10.2019], 2005 und Hermann, L.; Korte-Böger, Andrea, „Rheinische Zellwolle AG im Zweiten Weltkrieg – ein Arbeitsort für Zwangsarbeiter und Gefangene“, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises, 86. Jahrgang 2018. Die Liste der hier beigesetzten Opfer der NS-Gewalt aus der Sowjetunion siehe auf der russischen Webseite www.nekropol.com https://www.nekropol.com/Russe.php#Siegburg.

2 Ebd.

3 Stadtarchiv Liste der Opfer (Stadtarchiv Siegburg).

4 Zenker, Peter, Zwangsarbeit in Siegburg, online im Internet: www.peter-zenker.de, [zugegriffen am 24.10.2019], 2005 und Hermann, L.; Korte-Böger, Andrea, „Rheinische Zellwolle AG im Zweiten Weltkrieg – ein Arbeitsort für Zwangsarbeiter und Gefangene“, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises, 86. Jahrgang 2018; „Zellwolle-Werke Phrix der Rheinischen Zellwolle AG”. in: KuLaDig, Kultur.Landschaft.Digital. URL: https://www.kuladig.de/Objektansicht/KLD-252442 [zugegriffen am 26.01.2020].  

5 Zenker, Peter, Zwangsarbeit in Siegburg, online im Internet: www.peter-zenker.de, [zugegriffen am 24.10.2019], 2005 und Stadtarchiv Liste der Opfer (Stadtarchiv Siegburg).

6 Zenker, Peter, Zwangsarbeit in Siegburg, online im Internet: www.peter-zenker.de, [zugegriffen am 24.10.2019], 2005 und L. Hermann, Andrea Korte-Böger „Rheinische Zellwolle AG im Zweiten Weltkrieg – ein Arbeitsort für Zwangsarbeiter und Gefangene“, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises, 86. Jahrgang 2018.

7 Hermann, L.; Korte-Böger, Andrea, „Rheinische Zellwolle AG im Zweiten Weltkrieg – ein Arbeitsort für Zwangsarbeiter und Gefangene“, in: Heimatblätter des Rhein-Sieg-Kreises, 86. Jahrgang 2018.

8 Zenker, Peter, Zwangsarbeit in Siegburg, online im Internet: www.peter-zenker.de, [zugegriffen am 24.10.2019], 2005. 

9 Ebd.

10 Bestand Siegburger Stadtarchiv: Siegerbild des Fotowettbewerbs zeigt sowjetisches Gräberfeld, „Schicksal des Individuums“, 05.02.2014 u. Gespräch mit Stadtrat Raymund Schoene (Die LINKE).

11 Zenker, Peter, Zwangsarbeit in Siegburg, online im Internet: www.peter-zenker.de, [zugegriffen am 24.10.2019], 2005 und Bestand Siegburger Stadtarchiv: Siegerbild des Fotowettbewerbs zeigt sowjetisches Gräberfeld, „Schicksal des Individuums“, 05.02.2014.

12 Gespräch mit Stadtrat Raymund Schoene (Die LINKE).

13 Gespräch mit Stadtrat Raymund Schoene (Die LINKE).

14 Eigene Beobachtungen vom 10.12.2019.

15 Zenker, Peter, Zwangsarbeit in Siegburg, online im Internet: www.peter-zenker.de, [zugegriffen am 24.10.2019], 2005 und Stadtarchiv Liste der Opfer (Stadtarchiv Siegburg).

16 Blumenfeld, Viktor, div. Artikel, online im Internet: https://translate.google.de/translate?hl=de&sl=ru&u=https://golosarmenii.am/article/23895/vestochka-ot-propavshego-bez-vesti&prev=search, http://www.krasrab.com/archive/2014/04/10/25/view_article, https://translate.googleusercontent.com/translate_c?depth=1&hl=de&prev=search&rurl=translate.google.de&sl=ru&sp=nmt4&u=https://www.partner-inform.de/partner/detail/2005/3/277/1712/dolg-pamjati%3Flang%3Dru&xid=17259,15700023,15700186,15700190,15700256,15700259,15700262,15700265,15700271&usg=ALkJrhgiQ47ZgJMSO3V2HsQJfgId4ClkGw, [zugegriffen am 30.12.2019].

17 Ebd.

18 Zu diesem Symbol siehe den Beitrag: Das Georgsbändchen – was es verbindet, was es trennt: https://erinnerung.hypotheses.org/28.

19 Eigene Beobachtung vom 10.12.2019.

20 Gespräch mit Stadtrat Raymund Schoene (Die LINKE).

21 Beitrag zum Tag des Sieges 2017 auf dem Siegburger Nordfriedhof, online im Internet: https://ok.ru/video/298719119944, 11.05.2017, [zugegriffen am 30.12.2019]. 

22 Eigene Beobachtung von 10.12.2019 – dort waren Georgsbändchen angebracht, nur eine Woche nach dem Gedenktag für den Unbekannten Soldaten (3.12., in Russland heute – Tag des militärischen Ruhmes in Erinnerung an die Verteidigung Moskaus im Dezember 1941).