
von Hera Shokohi
„Das sind alles Erfahrungen, die nicht übertragbar sind“1, schreibt der Historiker und Philosoph Reinhart Koselleck (1923-2006) in seinem Aufsatz Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. Koselleck thematisiert in diesem Aufsatz den Wandel in der europäischen Erinnerungskultur nach der Zeit des Nationalsozialismus. Doch wie kommt Koselleck zu seiner Konzipierung des negativen Gedächtnisses — und was ist das negative Gedächtnis überhaupt?
Die Theorie des negativen Gedächtnisses und der negativen Gedächtnisorte greift ab der Zeit des Nationalsozialismus. Vorher wäre es möglich gewesen, jeden Krieg und jeden Tod mit einem ihm zugehörigen Gerechtigkeitsmaßstab und einer Sinnstiftung zu versehen, doch „dieser Maßstab versagt, wenn wir uns heute den Verbrechen zuwenden, die aus der nationalsozialistischen Zeit unsere Erinnerung prägen.“2 Das „Ausmaß und die Abgründigkeit“3 der nationalsozialistischen Gewalt mache jede potentielle Form von Sinnstiftung und intendierter, positiver Gerechtigkeit absolut unvorstellbar. Der Holocaust ist für Koselleck etwas Unvorstellbares, es ist die Totalität der Gewalt. Für ihn handelt es sich um Absurdität und Sinnlosigkeit, „es gibt keine Sinnstiftung, die rückwirkend auf die Totalität der Verbrechen der nationalsozialistischen Deutschen einholen oder einlösen könnte.“4 Die Erinnerungen und Erfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus „ergießen sich wie eine Lavamasse in ihre Leiber — unverrückbar und eingeschrieben.“5 Weder Zeitgenossen, die nicht im Lager waren, noch Folgegenerationen seien dazu in der Lage, dies nachzuempfinden. Ihre Erfahrungen seien nur sekundär. Ebendies hat zur Konsequenz, dass es kein kollektives Gedächtnis gibt. Es ist ein „wohlmeinender Trugschluß“6 anzunehmen, dass sich auf Basis der Lagererfahrung der Opfer des Nationalsozialismus ein identitätsstabilisierendes kollektives Gedächtnis in Deutschland entwickeln könne — dafür seien die Erfahrungen der Opfer zu primär, zu singulär — eine Übertragung der absurden Sinnlosigkeit in das Gedächtnis anderer ist schlichtweg nicht möglich. Nur wer im Lager war, weiß, wie es ist, im Lager zu sein und vor allem, wie es ist, nach dem Lager weiterzuleben.7 Wenn Koselleck nun dafür plädiert, dass niemand außer den Opfern der Lagergewalt das Lager verstehen kann, stellt sich nun die Frage, ob Koselleck irgendeinen Bezug zum Lager hat — und wenn ja, welchen.
Koselleck verstehen
Reinhart Kosellecks Werk und Wirken war von vielen Denkern maßgeblich geprägt: So zum Beispiel Johannes Kühn, Carl Schmitt, Karl Löwith und Martin Heidegger, um einige zu nennen. Zu diesen Philosophen, die Koselleck beeinflussten, gehörte auch Hans-Georg Gadamer (1900-2003).8 In Wahrheit und Methode legt er die Grundzüge der Hermeneutik dar. Hermeneutik ist die Lehre des Verstehens und „das Verstehen ist, besonders in der deutschen wissenschaftlichen Tradition, ein Schlüsselbegriff der Geisteswissenschaften und damit auch der Historie“.9 Doch Verstehen ist ein Begriff, dem Mannigfaltigkeit zukommt.10 Das hermeneutische Verstehen ist zurückzuführen auf sprach- und kulturphilosophische Auseinandersetzungen mit der Lehre der Textinterpretation. Man müsse einen Autor verstehen, um sein Werk zu verstehen, heißt es in den traditionellen Lehren Schleiermachers und Herders. Eben dieses Verfahren lässt sich auf die Geschichtswissenschaft übertragen: „Weil Geschichte die Schöpfung der Menschen ist, verlangt sie auch einer Erklärung durch die Motive, die Wertvorstellungen, die Bedeutungsannahmen, kurz durch die Intentionen, von denen sich die Menschen bei ihrem Handeln haben leiten lassen. Eine solche Erklärung heißt dann ‚Verstehen‘.“11 Folglich müssen wir auch so mit Koselleck umgehen — wir müssen versuchen, seinen Hintergrund zu erfassen; versuchen, ihn zu verstehen, da wir nur so sein Werk verstehen können.
Reinhart Koselleck, geboren am 23. April 1923 in Görlitz, verbrachte seine Kindheit und Jugend in einer liberalen protestantisch-republikanischen Familie, welche sich dem klassischen Bildungsbürgertum zuordnen lässt und Bildung, Wissenschaft und Kultur besonders schätzte.12 Seine Familie wahrte eine kritische Distanz zur nationalsozialistischen Ideologie und weigerte sich unter anderem auch eine Germanisierung des Nachnamens ‚Koselleck‘ durchzuführen.13 Trotzdem ging der junge Schüler Koselleck mit seinen 18 Jahren zur Wehrmacht und geriet mit 21 Jahren in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er bereits nach zwei Jahren freigelassen wurde.14 Kurz vor der Schlacht von Stalingrad verletzte Koselleck sich, was dann dazu führte, dass er nicht in die Schlacht involviert war. Die Zeit der Kriegsgefangenschaft verbrachte Koselleck zu Beginn in Auschwitz und dann in KARLag, einem sowjetischen GULag in Karaganda, Kasachstan.15 Durch einen glücklichen Zufall konnte der 23-jährige der Kriegsgefangenschaft entkommen: Ein deutscher Lagerarzt, der seinen Großvater kannte, setzte sich für ihn ein.16 Koselleck war jedoch nicht der einzige in seiner Familie, der Leidenserfahrungen im Zweiten Weltkrieg machte. So verstarb sein älterer Bruder im Militär, sein jüngerer bei einem Bombenangriff. Der Vater wurde mehrmals festgenommen und inhaftiert und die Schwester der Mutter wurde im Rahmen einer Euthanasieaktion ermordet.17
Koselleck begründete seinen freiwilligen Beitritt in die Wehrmacht damit, dass die freiwillige Meldung für den Krieg Vorteile hatte. Zu dem Zeitpunkt war er Schüler und meldete sich mit fast der gesamten Schulklasse freiwillig zum Dienst:
„Wir haben uns alle kriegsfreiwillig gemeldet, die ganze Klasse, bis auf einen Katholiken, der das nicht tun durfte und dann als Erster fiel, weil er sofort zur Infanterie eingezogen wurde, während sich die Kriegsfreiwilligen entweder zu Heldengattungen oder zu sogenannten Drückebergergattungen melden konnten. Das war der Vorteil der freiwilligen Meldung. Wer sich nicht freiwillig meldete, kam jedoch sofort zur Infanterie wie jener gläubige Katholik, der damals mein engster Freund war: Siegfried Froitsheim.“18
Während seiner Zeit in der Wehrmacht organisierte Koselleck gemeinsam mit Dr. Adolf Friedrich Kameradschaftsabende, wo er zeichnete und Friedrich dichtete. Friedrich wird von Koselleck als „dezidierter Antinazi“ bezeichnet, welcher antisemitische Lieder in den Soldatengruppen nicht erlaubte. „Und zweifellos hat er einen starken Einfluss auf mich ausgeübt“, so Koselleck.19 Auf die Frage, wann Koselleck von der Kriminalität des nationalsozialistischen Staats erfuhr, antwortete er: „Nun, man nahm die Judenverfolgung sehr bald wahr.“20 Seine Familie bekam aktiv mit, welche Repressalien jüdische Freunde und Kollegen erleiden mussten. Die Synagogenverbrennung im November 1938 bekam Koselleck ebenfalls mit, aber in der Familie wurde nicht darüber diskutiert. Retrospektiv sagt er, er sei sich nicht sicher, ob „ein stummer Antisemitismus“ die Diskussion verhinderte oder ob es an politischer Vorsicht lag, da man Angst vor Rückwirkungen in der Öffentlichkeit hatte — oder letzten Endes doch an der „Feigheit des Wegschauens und Weghörens.“21
„Von der Judenvernichtung erfuhr ich erstmals als Frontsoldat in Russland, in Kiew“22, sagte Koselleck in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeine Zeitung.23 Das Ereignis, von dem Koselleck damals berichtet wurde, war die Ermordung der Juden in Babij Jar. Zudem erinnerte er sich an einen Marsch nach Bjelgorod im Winter 1941/42, bei dem in einem Dorf 150 Juden ermordet wurden. „Ich bin durch ebendiesen Ort gekommen und kann mich nicht erinnern, dass ich währenddessen oder zuvor oder danach von dieser Aktion gehört hätte“, so Koselleck, obwohl er sich später bewusst wurde, dass dieses Ereignis quellenmäßig belegt ist. Es seien die „typischen Blindflecken“ der Erinnerung.24 Im Februar 1943 erfuhr er von seiner Tante über Buchenwald von dem „Elend auf dem Ettersberg“25, aber nicht über die systematische Vernichtung jüdischer Menschen — dies erfuhr Koselleck erst in Auschwitz als Kriegsgefangener.
„Da gab es eine Szene, die ich schon öfter geschildert habe. Es war da ein oberschlesischer Aufseher, der mir einen Schemel auf dem Kopf zertrümmern wollte, weil ich nicht schnell genug Kartoffeln schälte, aber dann warf er den Schemel in die Ecke, wobei ein Bein abbrach, und rief: ‚Was soll ich dir schlaggen Schäddel ein, wo ihr habt vergasst Millionen.‘ Da habe ich schlagartig gemerkt, dass das nicht erfunden sein konnte.“26
In einem Beitrag aus dem Jahr 1995 erzählte Koselleck ebenfalls von seinen ersten Konfrontationen mit den Verbrechen der Deutschen: „Vergast? Das konnte doch nur eine sowjetische Propagandalüge sein – so dachten wir zuerst, und viele noch danach. Von der Wahrheit dieses Wortes wurde ich spontan überzeugt.“27 Dies waren seine Gedanken in dem Moment, wo er und weitere Häftlinge an Birkenau vorbeigetrieben wurden. Die oben zitierte Szene mit dem oberschlesischen Aufseher thematisiert Koselleck ebenfalls in diesem Beitrag: „Vergast? Millionen? Das konnte nicht erfunden sein.“28
Koselleck zweifelte kein bisschen an den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes als er im Mai 1945 davon erfuhr und erkannte die verübte Gewalt.29 Zudem ist er sich der Differenz zwischen seiner Wahrnehmung von Auschwitz aus der Perspektive eines Kriegsgefangenen und der Wahrnehmung von Auschwitz aus der Perspektive eines Opfers nationalsozialistischer Gewalt bewusst. „Heute kann ich ausmessen, freilich nur sekundär und ex post, was Auschwitz für jene dem Tod Verschriebenen und für jene Überlebenden war, die dort vor uns zusammengetrieben, zermürbt, vernichtet und vergast wurden oder die dennoch überlebt hatten“, so Koselleck.30 Er gesteht ein, dass seine persönliche Erfahrung in Relation dazu kurz war: „Sie lautet nur Hunger und wieder Hunger, Arbeit und wieder Arbeit“31; er gesteht ein, dass es einen Unterschied in der Lagerwahrnehmung zwischen ihm und den Opfern von Auschwitz gibt. Zudem ist Koselleck sich seines Glücks und seiner privilegierten Stellung bewusst gewesen: Entkommen aus der Kriegsgefangenschaft konnte er nur, da zufällig Bekannte von ihm anwesend waren — „Aber dieses Glück – hier das Glück eines Bildungsbürgers – hatten nicht alle“, so Koselleck. „Gewiß nicht der Lagertrompeter, mein Nachbar, der plötzlich im GPU-Bunker verschwand und nach vier Wochen als Skelett ins Lazarett zurückkehrte – um hier zu sterben […].“32
Das Ende des Krieges – einmal, zweimal, dreimal, unendliche Male
„Es gibt eben Erfahrungen, die unaustauschbar sind und unvermittelbar – so furchtbar oder um vieles schlimmer die Erfahrungen anderer sind. Vergleichen lassen sie sich allemal: aber nur von außen. Von der jeweiligen Erfahrung selber her ist alles einmalig. Heute weiß ich weit mehr, als ich damals wissen konnte, und ich weiß anderes, als damals möglich war. Und so geht es den Nachgeborenen. Aber die Unaustauschbarkeit eines primären Erfahrungswissens läßt sich nicht überbieten: Wissen ist besser als Besserwissen.“33
Die Relevanz der primären Erfahrungsgeneration bzw. Erfahrungsgruppe ist für Koselleck unbestreitbar. „Deshalb gibt es vielerlei Kriegsenden“, denn „Was den einen Befreiung war, war den anderen nicht der Friede – oder doch?“34 Er selbst führte einige Beispiele dieser multiplen Wahrnehmungsstruktur aus seinem eigenen Leben an: Drei seiner Tanten sind verschwunden „in einen Tod, den niemand kennt“, so Koselleck. „Auch das war ein Kriegsende, von dem ich aber am 9. Mai noch nichts wußte.“35 Dreimal erfuhr er das Kriegsende: Im Dienst in den Horchposten, als französische Panzer vorbeirollten und Russen mit amerikanischen Lastern fuhren und der Stadtkommandant keinen Alarm schlagen ließ, um der Stadt Kehl „sinnlos blutige Kämpfe zu ersparen.“36 Es kam zu einer kampflosen Räumung der Stadt, Koselleck selbst flüchtete über die südlichen Rheinauen. Seine individuelle Flucht bezeichnet er auch als ein Kriegsende. Und die dritte Erfahrung des Kriegsendes machte er in Karaganda, wo ein Film und eine Wochenschau ihm diese Ereignisse erneut vermittelten — „Aber die Kriegsenden nahmen kein Ende.“37 Die Atombombe, der Konflikt zwischen der UdSSR und Japan — dies sind für Koselleck ebenfalls Kriegsenden. Es gebe folglich also nicht ein Kriegsende, sondern mehrere individuell wahrgenommenen Kriegsenden. Ein Kriegsende ließe sich nur von ex post von außen definieren, die individuellen Enden könne man ebenfalls nur von außen vergleichen. Aber der Erfahrung selbst kommt Einmaligkeit zu; ihr kommt Unaustauschbarkeit, Unmessbarkeit, Unvergleichbarkeit zu.
Geprägt von Lava – die Singularität der Erfahrung und die Bewältigung des Traumas
Kosellecks Beitrag in der Frankfurter Allgemeine Zeitung von 1995 hat den Titel „Glühende Lava, zur Erinnerung geronnen“ — und eben dieses Motiv der Lava ist ein gängiges, welches immer wieder vorkommt, wenn Koselleck von seiner Kriegserfahrung berichtet.
„Es gibt Erfahrungen, die sich als glühende Lavamasse in den Leib ergießen und dort gerinnen. Unverrückbar lassen sie sich seitdem abrufen, jederzeit und unverändert. Nicht viele solcher Erfahrungen lassen sich in authentische Erinnerung überführen; aber wenn, dann gründen sie auf ihrer sinnlichen Präsenz. Der Geruch, der Geschmack, das Geräusch, das Gefühl und das sichtbare Umfeld, kurz alle Sinne, in Lust oder Schmerz, werden wieder wach und bedürfen keiner Gedächtnisarbeit, um wahr zu sein und wahr zu bleiben.“38
Für Koselleck zählen hierzu seine eigene Erfahrung als Soldat im Krieg und seine Erfahrung als Kriegsgefangener, insbesondere das Gespräch mit dem oberschlesischen Aufseher, durch den er von Auschwitz erfuhr. Die Lava ist die „unveränderbare Primärerfahrung“39, der eine Sonderrolle zukommt: Menschen, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben, können sie nicht nachvollziehen. Ebendies führe dazu, dass es keine Sinnstiftung gibt, „die rückwirkend die Totalität der Verbrechen der nationalsozialistischen Deutschen einholen oder einlösen könnte.“40
„Die verzehrende Angst der Häftlinge in den Lagern, eine Angst, die verschluckt werden mußte, um weiterleben zu können. Der Schmerz, mit dem der ständig beißende Hunger am Körper zehrt. Das Zittern bei der Arbeit in allen Gliedern bis zur vollständigen Erschöpfung. Das Warten und wieder Warten, das Stehen und wieder Stehen-Müssen, das Strammstehen-Müssen über Stunden, über Tage, über Tage und Nächte hinweg. Die Furcht vor dem Nachbarn, die den eigenen Egoismus schürt. Die mageren Chancen, in der rigorosen Lagerhierarchie, von oben Halt oder Hilfe zu finden. Die auch geleistete Nächstenhilfe, die lebensgefährlich war und den Tod einbringen konnte. Die Aussichtslosigkeit, einen Weg zurück nach hause oder hinaus in die entschwundene Freiheit zu finden. Und immer zwang die Aussichtslosigkeit dazu, die Hoffnungslosigkeit, selbst vergessen zu müssen, um überhaupt überleben zu können.“41
Das Lager lässt einen nicht los, es sind Erfahrungen, die in keiner Weise übertragbar sind, „sie füllen das Gedächtnis der Betroffenen, sie formen deren Erinnerungen, ergießen sich wie eine Lavamasse in ihre Leiber — unverrückbar und eingeschrieben“, so Koselleck.42 Dieser Lavacharakter sorgt dafür, dass es kein kollektives Gedächtnis diesbezüglich geben könne: „Die in den Leib gebrannte Erfahrung der absurden Sinnlosigkeit läßt sich, als Primärerfahrung, nicht in das Gedächtnis anderer oder in die Erinnerung nicht Betroffener übertragen.“43
Wenn Koselleck über das Lager schreibt, wählt er viele körperlich-sinnliche Ausdrücke — Leib, Geruch, Geschmack, Gefühle, Umgebung. Die individuelle Wahrnehmung sei somit an Faktoren gebunden, die gar nicht vorstellbar seien. Die „Apokalypse ohne Gnade“44, die „terroristisch erzwungene Sinnlosigkeit“45 führt zu einer Aporie: Ein sinnspendender Gedanke ist schlichtweg unmöglich und somit wird die Unlösbarkeit der Sinnstiftung zu einem Thema in der Erinnerungs- und Geschichtskultur. Die neuen Denkmäler, die sich mit eben dieser Unmöglichkeit der Sinnstiftung vor dem Hintergrund radikaler Sinnlosigkeit und Gewalt befassen, sollen einen „erdrücken“ und „erschlagen“; die zentrale Botschaft dieser Denkmäler ist nun, dass die Frage nach dem Sinn selbst sinnlos geworden ist.46 Auschwitz hatte keinen Sinn, Auschwitz war rohe Gewalt.
Der Versuch, Auschwitz zu verstehen
„Ja, Kosellecks Hinwendung zur Geschichte und zur Geschichtsschreibung […] dürfte wesentlich mit dem theoretischen Impuls in Verbindung stehen, nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mit Hilfe einer niemals nachlassenden Energie so umfassend wie möglich die Gründe und Ursachen für die zivilisatorischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu verstehen.“47
In seiner Dissertation Kritik und Krise suchte Koselleck die langfristigen Ursachen und Bedingungen, die „Vernichtungsfeldzüge und Vernichtungsdrohungen erst möglich gemacht hatten.“48 Diese Suche führte ihn in seinen Betrachtungen in den absolutistischen Staat des 18. und 19. Jahrhunderts, in dem neue Rhythmen und Mechanismen der Klassifizierung in Kraft traten.49 Dies ist unmittelbar mit seiner Kriegserfahrung verbunden, denn „sie bot ihm immer wieder den Lackmustest für moralische Aufrichtigkeit, historische Wahrhaftigkeit.“50 Es ist unbestreitbar, dass die Erfahrungen im Nationalsozialismus Koselleck maßgeblich geprägt haben: Der Versuch, die Katastrophen des 20. Jahrhunderts auf eine Ursache zurückzuführen und die Gründe der Gewalt zu verstehen ist ein Versuch der Kontingenzbewältigung. Laut Koselleck befinden wir uns in einer langfristigen Krise der Welt, die mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, der als das Ende aller Kriege empfunden wurde, nicht beendet ist. So ist Reinhart Koselleck zu verstehen.
„Für unseren antifaschistischen Umerziehungsfunktionär […] war mit dem sowjetischen Sieg über die kapitalistischen und imperialistischen und faschistischen Japaner der letzte Krieg aller Kriege der Weltgeschichte beendet. Wie bitte, fragte ich ihn. Ob er das nach viertausend Jahren hochkultureller Kriegsereignisse allen Ernstes behaupten wolle?“51
Die gegenwärtige Unendlichkeit des Krieges
Kosellecks Gedanken finden sich im heutigen Diskurs über das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg immer wieder. Es gibt nicht nur ein Kriegsende, sondern viele. Der Zweite Weltkrieg ist von einer Diversität der Erfahrungswelt geprägt. Dies wird auch in der Debatte um den 8. Mai ersichtlich: viele Organisationen, Parteien und individuelle Akteure engagieren sich dafür, dass der 8. Mai, der Tag der Befreiung, ein gesetzlicher Feiertag wird. Ein weiterer Fall, in dem die Unendlichkeit des Krieges ins Auge springt, ist die Debatte um das Polen-Denkmal in Berlin. Einige Abgeordnete des Bundestages plädieren für ein Denkmal für die im Zweiten Weltkrieg ermordeten Polen. Die konkurrierende Forderung ist der Wunsch nach einem allumfassenden Gedenkort für alle Opfer des deutschen Vernichtungskriegs im Osten. Erinnerung und Vergangenheit spielen eine große Rolle im Selbstbild eines Staates, da Erinnerung Identität stiften kann. Ein Denkmal nur für polnische Opfer wäre eine Nationalisierung des Gedenkens. Polen waren aber nicht die einzigen Opfer des deutschen Vernichtungskriegs; es waren auch Russen, Ukrainer, Weißrussen und viele andere. Zudem gab es nicht nur polnische Opfer, sondern auch polnische Täter.
Die Debatte erinnert stark an Kosellecks Aufsatz über die Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. Erbaut man ein Denkmal für eine bestimmte Opfergruppe oder für alle Opfer? Wie geht man mit den Unterschieden in den Opfergeschichten um? Ist es überhaupt möglich, ein Denkmal zu haben, von dem sich alle Opfer repräsentiert fühlen? Das alles sind Anregungen von Koselleck, die bis heute wertvoll und relevant für unseren Umgang mit der Vergangenheit sind. Wenn wir Erinnerungsorte betrachten, sollten wir stets im Hinterkopf behalten, wer sich hier an was und an wen erinnert. Der Zweite Weltkrieg war ein vielschichtiges Ereignis, das unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Erfahrungswelten unterschiedlich traf. Diese Diversität der Erinnerung bedarf Kommunikation und Austausch, nicht die Nationalisierung des Gedenkens. Durch konkurrierendes Nationalgedenken und die Umdeutung der Vergangenheit aus identitätspolitischen Gründen kommt keine Erinnerung an den Krieg hervor, die den Millionen Opfern gerecht wird. Aus den Erinnerungen an den Krieg wird ein Krieg der Erinnerungen.
1 Koselleck, Reinhart: Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses. In: Knigge/Frei (Hrsg.): Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 22-23, S. 23.
2 Ebd., S. 22.
3 Ebd.
4 Ebd., S. 23.
5 Ebd.
6 Ebd., S. 24.
7 Ebd.
8 Olsen, Niklas: History In The Plural. An Introduction to The Work of Reinhart Koselleck. New York/Oxford 2012, S. 19.
9 Faber, Karl Georg: Theorie der Geschichtswissenschaft. München 1972, S. 108.
10 So finden sich zum Beispiel unterschiedliche Definitionen und Auslegungen des Verstehens bei Droysen, Weber, Gadamer, Herder und Schleiermacher.
11 Ebd., 112.
12 Olsen: History In The Plural, S. 10.
13 Meier, Christian: Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, in: Joas, Hans/Vogt, Peter (Hrsg.): Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 103-120, hier S. 116.
14 Nagel, Ivan: Der Kritiker der Krise. Zum 50. Jahrestag von Reinhart Kosellecks Promotion — Rede beim Festakt der Universität Heidelberg am 23. November 2004, in: Ebd., S. 94-102, hier S. 94.
15 Ebd.; Koselleck, Reinhart: Glühende Lava, zur Erinnerung geronnen. Vielerlei Abschied vom Krieg: Erfahrungen, die nicht austauschbar sind, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.05.1995, Nr. 105, S. B4.
16 Meier: Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, S. 116.
17 Ebd.; Koselleck: Glühende Lava.
18 Koselleck: Glühende Lava.
19 Dutt, Carsten/Koselleck, Reinhart: Von der Judenvernichtung erfuhr ich erstmals als Frontsoldat in Russland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.2013, Nr. 282, S. N4.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Kiew ist, im Gegensatz zu Kosellecks Aussage, die Hauptstadt der Ukraine und nicht Russlands. Kiew wurde jedoch von Zeitgenossen einfach nur als „Russland“ wahrgenommen.
23 Ebd.
24 Ebd.
25 Ebd.
26 Ebd.
27 Koselleck: Glühende Lava.
28 Ebd.
29 Meier: Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, S. 106.
30 Koselleck: Glühende Lava.
31 Ebd.
32 Ebd.
33 Ebd.
34 Ebd.
35 Ebd.
36 Ebd.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Ebd.
40 Koselleck: Formen und Traditionen des Negativen Gedächtnisses, S. 23.
41 Ebd.
42 Ebd.
43 Ebd.
44 Ebd., S. 25.
45 Ebd., S. 24.
46 Ebd., 31.
47 Joas, Hans/Vogt, Peter: Einleitung, in: Joas, Hans/Vogt, Peter (Hrsg.): Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 9-54, hier S. 33.
48 Steinmetz, Willibald: Nachruf auf Reinhart Koselleck (1923-2006), in: Ebd., S. 57-83, hier S. 62.
49 Ebd., S. 63.
50 Hölscher, Lucian: Abschied von Reinhart Koselleck, in: Ebd., S. 84-102, hier S. 85.
51 Koselleck: Glühende Lava.