Gedenkrede am Hohen Kreuz

Gedenkrede von Ekaterina Makhotina am 22.06.2021 am Hohen Kreuz in Regensburg, Standort eines ehemaligen nationalsozialistischen Arbeitslagers.

(Fast) Auf die Minute genau vor 80 Jahren – am 22. Juni 1941 um 12.15 Uhr (um 11.15 Uhr deutscher Zeit) erfuhren die vielen Millionen Bürger der Sowjetunion aus dem Radio vom deutschen Überfall auf ihre Heimat. Dieser Tag hat sich tief ins Gedächtnis der Zeitzeugen eingeprägt – sie können sich sehr genau an den „sonnigen, warmen Sonntag“ erinnern, was sie an dem Tag gemacht haben und wie sie davon erfahren hatten.  

So erinnerte sich zum Beispiel W. Plachow: „Der Krieg kam unerwartet. Man kann schon mit Sicherheit behaupten, dass am 22. Juni alle Menschen im Land erstarrten, als sie die Mitteilung von Molotow im Radio hörten. In seiner Ansprache an das sowjetische Volk klang der Aufruf zum Kampf, der alle Kräfte fordern wird, und man hörte den Wunsch raus, den Menschen die Hoffnung auf den  Sieg zu vermitteln. Und trotzdem fühlten viele Ratlosigkeit. Es gab auch solche, die von Panik ergriffen wurden. Bekannte, Kollegen, Familienangehörige, ohne die Angst voneinander zu verbergen, stellten die eine Frage: Was kommt? Menschen waren von quälenden Unruhen ergriffen: wie soll man jetzt leben? 

Dieser Tag bedeutete für die Bürger der Sowjetunion einen tiefen Einschnitt, der ihr Leben in ein davor und in ein danach teilte. Der rassenideologisch bedingte Raub- und Vernichtungskrieg der Deutschen konfrontierte die Menschen in der Sowjetunion mit einer beispiellosen Dimension von Grausamkeit. 

Gleich nach dem Krieg schrieb sowjetischer Schriftsteller Il‘ja Erenburg: „Es gab in unserem Land wohl keinen Tisch, an dem die Menschen als sie abends zusammen kamen, nicht einen leeren Platz spürten.“ Der Schmerz und der Verlust, der Menschen zugefügt wurde, wirkt bis heute nach. In Belarus, Russland und der Ukraine ist dieser Tag heute ein Tag des Gedenkens und der Trauer, an dem Kerzen angezündet werden und an den Kriegsfriedhöfen Gedenkzeremonien stattfinden.

Den 65 Millionen Zivilisten in den deutschbesetzten Gebieten brachte der Krieg Hunger, Tod und Angst. Die Sowjetunion verlor 27 Millionen Leben insgesamt, davon drei Millionen Opfer allein unter den sowjetischen Kriegsgefangenen, denen wir heute hier am Ort des ehemaligen Arbeitslagers am Gedenkstein Hohes Kreuz gedenken. Dass wir gerade hier gedenken, ist uns allen ein Hinweis, dass diese Verbrechen nicht nur weit im weg im Osten stattgefunden gefunden haben, sondern auch hier, vor unserer Haustür und in unserer unmittelbaren realen Welt. 

Viele solcher Orte sind als anonyme Massengräber stumme Zeugen der Gewalt, – sie sind schwer zu finden und vermitteln häufig keinerlei Informationen über die Umstände des Todes, die Täterschaft oder die Herkunft der Opfer. Es ist unser gesellschaftliches Anliegen, diese Orte „sichtbar“ zu machen, Menschenschicksale zu rekonstruieren und Zeichen des Gedenkens zu setzen. Denn: Das lebendige Gedenken braucht nicht viel. Es braucht das Wissen-Wollen um die Schicksale, – und die Bereitschaft, den Stimmen der Überlebenden und deren Geschichten zuzuhören. Jede Geschichte handelt von Menschenschicksale – und je konkreter wir uns mit deren Geschichten auseinandersetzen, desto aufrichtiger und menschlicher wird unsere Erinnerungskultur. Jetzt, über 76 Jahren nach dem Kriegsende sollten wir den Opfern des Vernichtungskrieges zumindest ihre Würde zurückgeben – z.B. durch die Rekonstruktion der Namen der Beigesetzten und womöglich auch ihrer Schicksale. Es ist gut, dass in den letzten Jahren hier etwas in Bewegung gekommen ist und gesellschaftliche Initiativen die Errichtung einiger Gedenksteine und Erklärungsschilder auf den Friedhöfen durchgesetzt haben.

Aber warum erinnern wir? Warum erzählen wir, Historikerinnen, immer wieder diese ergreifenden Geschichten? Welche Perspektiven über das Heute liefert die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit? Warum bewegt sie uns immer wieder? Ich glaube, es liegt daran, dass die Erfahrungen der Ausgrenzung und der Gewalt aufgrund rassistischer und fremdenfeindlicher Ideologien, aber auch aus den primitivsten menschlichen Trieben heraus, nicht der Vergangenheit angehören. 

Die Erzählungen vom Überleben in der Unmenschlichkeit sowie Besuche an den Orten des Todes verlangen uns einiges ab. Wie Primo Levi einmal schrieb: „Man ist versucht, sich erschaudert abzuwenden und sich zu weigern, zu sehen und zu hören: Das ist eine Versuchung, der man widerstehen muss.“ 

Gerade weil die jungen Menschen heute mittlerweile in der vierten Generation zu Kriegsteilnehmern stehen, brauchen wir mehr Wissen, mehr Zeit und mehr Feingefühl bei der Vermittlung des Themas. Die deutsche Gesellschaft heute ist sehr heterogen und lässt sich nicht mehr auf eine deutsche Identität, die auf einer kollektiven Verantwortung für den Holocaust basiert, reduzieren. 

Bei einem Teil von den jungen Menschen werden die Fragen nach den Handlungen der Urgroßeltern während der NS-Zeit relevant sein, bei einem anderen Teil vielleicht familiäre Erfahrungen von Flucht, und Gewalt oder das Gefühl des „Fremd-Seins“. 

Das Nachdenken über die Vergangenheit ist mehr als ein Pflichtbesuch in einer Gedenkstätte mit der Schulklasse. Es ist auch ein Weckruf für junge Menschen, am Unrecht nicht vorbeizugehen, sich für die Schwachen und Diskriminierten einzusetzen. Das ist schließlich das, was Reinhard Koselleck als Kern des „negativen Gedächtnisses“ verstand – die Erfahrung der Opfer der NS-Gewalt ließe sich nicht nacherleben, aber sie soll uns dazu bewegen, stets unsere politische und gesellschaftliche Ordnung kritisch zu hinterfragen. 

Die Zeitzeugen und die Überlebenden wussten ganz genau, warum sie an den Krieg erinnern. Es ist die Erinnerung an ihre Familien, an ihre Eltern und Geschwistern, die gewaltsam umgekommen sind. Es ist die gefühlte Pflicht, Zeugnis abzulegen für jene, die tot sind. Fania Brancovskaja, eine Holocaustüberlebende in Litauen, erklärte es so: „Ich werde oft gefragt: Ist es nicht schwer für dich? Ich meine, ja, es ist schwer für mich. Aber diejenigen, die in Ponar liegen – einem Erschießungsgrab vor Vilnius, die können nicht mehr aufstehen. Solange ich noch kann, halte ich es für meine Pflicht, Zeugnis abzulegen.“

Nicht nur die Pflicht gegenüber den Toten brachte die Überlebenden zum Erzählen. Es war immer noch etwas, was sie uns, jungen Menschen, bei den Begegnungen zusammen mit ihrer Lebensgeschichte auf den Weg gaben – es darf nie wieder zu einem Krieg kommen. Sie wussten genau, was ein Krieg bedeutet und zu was Rassenhass, Fremdenfeindlichkeit und Ignoranz führen können. Dieser Wunsch, menschlich so ungemein einfach, sollte uns allen ein Auftrag sein.

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