
von Hera Shokohi
Musiker:innen im Nationalsozialismus
Die zentrale Gedenkveranstaltung der Stadt Bonn für die Opfer des Nationalsozialismus fand am 27.01.2020 im Schauspielhaus Bad Godesberg statt. Es war ein Gastspiel welches durch die Zusammenarbeit des Hardtberg-Gymnasiums Bonn, der NS-Gedenkstätte Bonn und dem Streichquartett des Beethovenorchesters auf die Beine gestellt wurde. Anwesend waren zudem der Bürgermeister der Stadt Bonn, Ashok Sridharan sowie Dipl. Geogr. Astrid Mehmel, die Leitern der NS-Gedenkstätte. In der Eröffnungsrede der Gedenkveranstaltung betonte Sridharan, dass Auschwitz ein Symbol für den Mord an der jüdischen Bevölkerung und anderen Gruppen, wie zum Beispiel Sinti und Roma, Homosexuellen, Asozialen und Zwangsarbeiter:innen sei. Sridharan gibt eine Einführung in die Geschichte des Vernichtungslagers und dessen Fortleben: 1945 sei es von den „Russen“ befreit worden, seit 1996 gelte der 27. Januar als bundesweiter Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus, 2005 wurde er von den Vereinten Nationen zum Gedenktag für die Opfer des Holocaust ernannt. Sridharan lobt den Anstieg der Besucherzahlen der Gedenkstätten in Nordrhein-Westfalen, insbesondere den Anstieg in der Bonner Gedenkstätte für die Opfer des Nationalsozialismus. Es folgt die Vorstellung des Themas der Gedenkveranstaltung: Jüdische und nicht jüdische Musiker:innen im Nationalsozialismus. Man habe dieses Thema vor dem Hintergrund des 250. Geburtstages Beethovens und dem Umgang mit Beethoven im Nationalsozialismus, nämlich dem „Missbrauch“ seiner Person und Musik für ideologische Selbstdarstellung, gewählt. Sridharan spricht von einer lebendigen Zukunft des Gedenkens und erhofft sich, dass die heutige Veranstaltung zum Nachdenken und Handeln anregt, denn es handle sich nicht um Themen von Gestern, sondern um etwas, was bis heute Spuren hinterlässt. Auf seine Rede folgt dann die Rede von Astrid Mehmel, der Leiterin der Bonner Gedenkstätte. Sie spricht von einem Gedenktag für alle Opfer, um sich danach zu einer weiteren Erklärung der Themenwahl zu wenden. Auf der einen Seite spielte Beethoven eine große Rolle im Leben jüdischer und nicht jüdischer Musiker:innen und galt als Inspiration — auf der anderen Seite steht die Instrumentalisierung der Musik Beethovens durch die Nationalsozialisten aufgrund ihrer „heroischen Gesinnung“ und „Großartigkeit“. Viele Musiker:innen, die vom nationalsozialistischen Regime vertrieben oder vernichtet wurden, sahen Beethoven als große Inspiration und hatten Vertrauen in Deutschland und deutsche Musikkultur. Zum Schluss ihrer Rede betonte Astrid Mehmel, dass es immer weniger Zeitzeug:innen am Leben sind. Es gäbe zwar noch „den einen oder anderen Auschwitzüberlebenden“, aber diese seien entweder zu alt und krank, um bei Veranstaltungen zu sprechen oder seien eher bei den großen Gedenkveranstaltungen, wie zum Beispiel der in Auschwitz.
Nach Mehmels Rede beginnt das Gastspiel: Eine Schauspielerin liest Gedichte von Dan Pagis, einem jüdisch-rumänischen Dichter und Literaturwissenschaftler vor, zwischendurch greifen die Schüler:innen des Hardtberg-Gymnasiums zum Mikrofon, beginnen ihre Sätze mit „Hätte ich im Nationalsozialismus musiziert, dann…“ und sprechen über die Opfer, deren Geschichte sie erzählen — aber vielmehr wirkt es so, als würden sie diese spielen, als wären es fiktive Rollen und keine realen Schicksale. Zwischen den einzelnen Vorstellungen spielt das Beethoven-Orchester einige Stücke, von denen es auch nicht klar ist, wer sie komponiert hat — handelt es sich hierbei um ein Stück aus der nationalsozialistischen Zeit, ist es eins der Werke der jüdischen Musiker:innen, ist es ein deutsches Stück, ist es ein nicht-jüdisches Stück, ist es ein gegenwärtiges Stück? Es liegt kein Programm mit den Namen der Stücke aus, es ist unklar ob die Stücke auch von den vorgestellten Opfern komponiert wurden.Wenn man keine Expertise in klassischer Musik hat, weiß man nicht, welche Musik gespielt wird. Die Schauspielerin liest das letzte Gedicht der Veranstaltung vor, Pagis’ Mit Bleistift geschrieben im verplombten Waggon.
Hier in diesem Transport
bin ich Eva
mit Abel meinem Sohn
wenn ihr meinen großen Sohn seht
Kain Adams Sohn
sagt ihm daß ich
Und sobald die letzten vier Worte des Gedichts vorgelesen wurden, ertönte mit leichter Verzögerung das einzige Musikstück, das die Mehrheit der Anwesenden vermutlich am ehesten kannten: das Ende der Gedenkveranstaltung wird durch das dramatische Anfangsmotiv von Beethovens Fünfter Sinfonie markiert.
Gedenken an den deutschen Widerstand
Die zweite Bonner Gedenkveranstaltung fand um 19:00 Uhr im Theater im Ballsaal in Bonn-Endenich statt. Organisiert wurde sie von der NS-Gedenkstätte, dem SPD Ortsverein Endenich-Weststadt und der Deutsch-Israelische-Gesellschaft AG. Das Thema des Abends war Georg Elser und seine Rolle in der deutschen Erinnerungskultur. Vorgetragen hat Matheus Hagedorny, der promovierender Historiker an der Universität Potsdam und Mitglied im Präsidium der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft ist und vor kurzem ein Buch mit dem Titel „Georg Elser in Deutschland“ veröffentlicht hat, in dem es um Leben und Wirken Elsers geht.
Zu Beginn der Veranstaltung erklärte der Moderator der Veranstaltung, warum dieses Thema gewählt wurde. Der 27. Januar sei dem Opfergedenken gewidmet, warum spreche man dann über eine Person wie Elser? Für die Organisatoren war das Buch von Hagedorny, welches der Moderator als „klug“ und „unorthodox“ bezeichnet, der Anlass für das Thema der Veranstaltung. Hagedorny sagte dazu, dass Elser eine Person sei, die in der Erforschung der Widerstandsgeschichte lange nicht beachtet wurde und im Schatten anderer Widerstandsakteure, wie zum Beispiel Stauffenberg, stand. Er betonte aber auch, dass Elser ein Kontrastmittel sei für Menschen, die sagen, man hätte keinen Handlungsspielraum gehabt, um gegen das NS-Regime zu agieren. Der Vortrag Hagedornys entsprach der Gliederung seines Buches: Der erste Teil war der Position Elsers im intellektuellen Diskurs der Linken gewidmet, der zweite behandelte die christlichen Motive Elsers und im letzten Teil ging es schließlich um die Rezeption Elsers in der deutschen Erinnerungskultur. Das Fazit des Vortrages war, dass Georg Elser als geschichtspolitisches Identitätsangebot verwendet wird. Als Beispiel nennt er die Verleihung des Georg-Elser-Preises für Zivilcourage und politischen Aktivismus an Dietrich Wagner, der bei einer Protestaktion in Stuttgart durch Wasserwerfer seine Sehfähigkeit verlor. Hagedorny äußert Bedenken darüber, dass diese Tat mit der Elsers vergleichbar sei. In einer abschließenden Diskussionsrunde merkt Hagedorny an, dass viele Deutsche sich mit dem Widerstand identifizieren, weil es entlastend sei. Diese Identifikation, welche er selbst als „fatal“ bezeichnet, führe somit zur Ablehnung der Tätervergangenheit. Das Aussterben der überlebenden Opfer und Zeitzeug:innen begünstige so eine Entwicklung.
Hagedorny hat nicht Unrecht. Vor kurzem veröffentlichte DIE ZEIT eine im Januar durchgeführte Umfrage über die Haltung der Deutschen zum Nationalsozialismus. Aus den Ergebnissen geht hervor, dass 3% der Befragten davon ausgehen, ihre Familie hätte das NS-Regime befürwortet und 30% behaupten, aus einer Familie von Nazi Gegnern zu stammen. 64% der Befragten sind zu dem der Meinung, dass ihre Vorfahren nicht an nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt waren.1
Schlussbetrachtung: Sinfonie statt Schweigeminute
Beide Bonner Gedenkveranstaltungen waren sehr unterschiedlich. Die zentrale Gedenkveranstaltung hat die passiven Opfer der Gewalt thematisiert, die Veranstaltung der DIG und der SPD betonte den Widerstand gegen den Nationalsozialismus und seinen Stellenwert in der deutschen Erinnerungskultur. Hagedornys Vortrag war eher eine Lehrveranstaltung, die zentrale Veranstaltung entsprach einer Trauerveranstaltung. Dennoch haben beide Veranstaltungen einen gemeinsamen Nenner — sie waren nicht repräsentativ für das Ausmaß der Gewalt. Viele Opfergruppen wurden nicht erwähnt, viele Vernichtungszüge nicht thematisiert. Wer sich an diesem Tag inklusives Gedenken an diverse Opfergruppen erhofft hat, bekam Musiker:innen und Elser. Reinhart Kosellecks Gedanken sind wieder mal präsent: Wie gedenken wir den Opfergruppen, gedenken wir ihnen einzeln, gedenken wir ihnen zusammen?
Eines ist sicher: Die Biographien von jüdischen und nicht-jüdischen Musiker:innen, die zum Teil fliehen und überleben konnten und das Einzelschicksal Elsers sind sehr spezielle Themen. Auch die Tatsache, dass man sich für das Thema jüdische und nicht-jüdische Musiker:innen im Nationalsozialismus entschied, weil der 250. Geburtstag Beethovens vor der Tür stehe und Beethoven von den Nationalsozialisten für Propagandazwecke instrumentalisiert wurde, ist in Anbetracht der Dimensionen der nationalsozialistischen Gewalt sonderbar. Koselleck hat Recht, wenn er schreibt, dass Gedenken Schwierigkeiten mit sich bringt, da es unterschiedliche Opfergruppen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Erinnerungen gibt. Aber die Rezeptionsgeschichte eines 250 Jahre alten Musikers zu bevorzugen und eine lange Rede darüber zu halten, statt der Opfer des Nationalsozialismus würdig zu gedenken, ist keine angebrachte Form der Vergangenheitsaufarbeitung.
Für Beethovens Fünfte Sinfonie gab es einen Platz. Für eine Schweigeminute nicht.
1 Policy Matters, Die Haltung der Deutschen zum Nationalsozialismus, Januar 2020. https://www.zeit.de/2020/19/zeit-umfrage-erinnerungskultur.pdf?wt_zmc=fix.int.zonaudev.alias.alias.zeitde.alias.ns-umfrage.x&utm_medium=fix&utm_source=alias_zonaudev_int&utm_campaign=alias&utm_content=zeitde_alias_ns-umfrage_x, Stand: 05. Mai 2020.