22.Juni 1941 und 81 Jahre danach

Gedenkrede in Hebertshausen, Dachau, 22.6.2022 von Dr. Katja Makhotina

Gedenkrede in Hebertshausen, 22.6.22. Foto: Franziska Davies.

Pavel Ermoschenko war erst zwanzig, als er hierher nach Hebertshausen verschleppt und erschossen wurde. Das geschah im Spätherbst 1941 – der Zeit, in der die meisten sowjetischen Kriegsgefangenen an den schrecklichen Haftbedingungen, Hunger und Kälte in den deutschen Lagern starben. Pavel, ein junger Bauer aus Rostov am Don, diente als einfacher Soldat[1]. Am 22. Juni 1941 – dem Tag des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion – geriet er in die deutsche Gefangenschaft nahe der Brester Festung im heutigen Belarus. Der Krieg dauerte für Pavel somit nur einen Tag, und das, was danach kam, war viel schlimmer – ein Leidensweg durch die deutschen Stalags mit miserablen Haftzuständen, oft unter freiem Himmel, ohne Versorgung und Nahrung. Schließlich wurde er im Stalag 8 A in Nürnberg „ausgesondert“, der Gestapo übergegeben und hier von den SS-Angehörigen des KZ Lagers Dachau erschossen. Dieses Schicksal teilte Pavel mit etwa 4 Tausend anderen sowjetischen Kriegsgefangenen, der Massenmord an ihnen gehört zu dem größten Verbrechenskomplex der deutschen Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges. 

Pavel Ermoschenko, Fotoporträit als Rotarmist, Privatbesitz Natalia Mischtschenko, aus dem Beigleitkatalog der Open-Air Ausstellung in Hebertshausen. Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Göttingen 2020, S.187.

Es stellt sich die Frage nach „Warum“? In diesem konkreten Fall können wir als Historiker nur Vermutungen anstellen.  Denn laut den Einsatzbefehlen zur „Säuberung der Gefangenenlager“ von Reinhard Heydrich – „säubern“ ist im NS-Sprech ein Euphemismus, der Vernichten bedeutet – wurde schon im Juli 1941 festgelegt, wer herausselektiert werden sollte[2]. Der antibolschewistische, rassistische und antisemitische Kriterienkatalog bestimmte die „gefährlichen“ Gefangenen – Juden, Staatsbeamten, Politkommissare, Intelligenzler, Kommunisten. Doch Pavel passte zu keiner dieser Kategorie – er war Bauer, sowjetisch-russisch, einfacher Soldat. Seine Überstellung geschah also entweder willkürlich oder weil er zu fliehen versuchte, – in dieser Zeit die einzige Form des Widerstands neben dem Selbstmord, die einem sowjetischen Gefangenen übrig blieb. 

Wir können nicht einmal annähernd nachvollziehen, was Pavel hier in Hebersthausen erlebte. Nur dank der Erinnerungen von Moisej Temkin, dem einzig überlieferten Selbstzeugnis über die Exekutionen an diesem Ort, ließe sich ein ungefähres Bild rekonstruieren: „ich stand an der Wand, nackt und zitternd vor Kälte und Angst und schaute mich um. Die SS-Leute, die an den Gruben standen, zeigten uns mit dem Finger nach oben und sagten „in den Himmel“.[3]

Auszug aus dem Notizheft, veröffentlicht hier: Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Göttingen 2020, S. 194.

Moisej überlebte wie durch ein Wunder – er hat seine jüdische Herkunft verheimlichen können und wurde noch am Schießplatz für die Zwangsarbeit herausselektiert[4]. Als erstes musste er die Kleidung der Opfer vom Boden einsammeln und in die Lastwagen bringen, die zurück ins KZ Dachau fuhren. Er wurde zum Arbeitssklaven der NS, zur Schwerstarbeit in den Lagern wie Mauthausen, Mittelbau –Dora und Bergen-Belsen herangezogen und war bei seiner Befreiung dem Tod näher als dem Leben. Als er nach dem Krieg in seinen Heimatort in Belarus zurückkehrte, erfuhr er, dass sein Vater 1942 zusammen mit anderen Juden ermordet worden war.

Diese zwei spärlichen biografischen Notizen lassen die Dimension des Grauens des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion erahnen. Mit „Säuberung-Befehlen“, wie von Heydrich, aber auch dem Kommissarbefehl und dem Kriegsgerichstbarkeitserlass wurde unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die deutschen Soldaten mit einer bis dahin ungesehenen Härte im Osten vorgehen sollten. Plünderung, Vergewaltigung und Mord an Zivilisten wurden nicht geahndet, und durch den Kommissarbefehl wurde der Mord nicht nur an Politoffizieren, sondern generell an Kommunisten zur Kriegstaktik.

Diesen Krieg plante die NS-Führung Deutschlands als einen präzedenzlosen Raub- und Vernichtungskrieg, bei dem der Tod von Millionen Menschen im Voraus kalkuliert war. In den rassenideologischen Überlegungen wurde ganzen Bevölkerungsgruppen das Recht auf Leben abgesprochen. Für Hitler war der Raum im Osten »wüst und leer«[5], die Bevölkerung sollte kolonisiert und ausgebeutet werden. Die maximale Ausnutzung der besetzten Gebiete, Vertreibung und Vernichtung der Menschen war ein Teil dieser Lebensraumpolitik. Die überdurchschnittliche Sterblichkeit der Gefangenen war ein Teil der Rechnung. In den Lagern des deutschen Operationsgebietes hatten die Angehörigen der Roten Armee zu verhungern. Von insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen sind drei Millionen an Hunger und Krankheiten gestorben.

Die radikalen Beutefantasien und der Kampf gegen die »Todfeinde« – die jüdische Bevölkerung und die Bolschewisten – kamen im »Unternehmen Barbarossa« zusammen. Im sogenannten Holocaust durch Kugeln starben bereits vor Ende 1941 mehrere Hundert Tausend sowjetische Juden. Auch gegen die nicht-jüdische Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten – der Ukraine, Belarus und Westrussland ging man gnadenlos vor: Sie waren „Slawen“, „Sowjets“, in der Rassenideologie minderwertig und lebensunwert. Während der sog. Sicherung der Partisanengebiete wurden ganze Dörfer ausgelöscht und die Bevölkerung getötet. Das ukrainische Dorf Korjukiwka im Gebiet Tschernihiv wurde zum Opfer einer solchen Vernichtungsaktion und kann als eines der größten „Feuerdörfer“ auf dem sowjetischen Gebiet gelten – etwa 6000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder wurden hier von den Einsatzgruppen am 1./2. März 1943 mit Maschinengewehren erschossen und verbrannt.[6]  

Gedenkstein in Korjukivka / Korjukovka, der die Opferzahl mit 7000 angibt.

Die Orte der deutschen Verbrechen im Vernichtungskrieg sind allerdings nicht so weit von uns entfernt, wie es auf dem ersten Blick scheint. Hier, wo wie heute stehen, ist einer der größten Exekutionsorte an sowjetischen Bürgern im Reichsgebiet, und auch die deutschen KZs wurden zu Zentren des systematischen Massenmords an den „Ausgesonderten“, an Kranken und arbeitsunfähigen Gefangenen. In den Außenlagern der KZs – insgesamt 1200 an der Zahl – mussten Männer und Frauen aus Osteuropa für die deutsche Kriegsindustrie arbeiten, unter menschenunwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen und kamen durch Schwerstarbeit zu Tode[7]. Auch Firmen beuteten die Osteuropäer als Arbeitssklaven aus – es gibt in Deutschland wohl kaum ein Großunternehmen, welches in der Kriegszeit keine Zwangsarbeiter eingesetzt hat. Für deutsche Nachkommensgesellschaft ist es eine Erinnerung die weh tut, – und vielleicht deswegen ist der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion eine Leerstelle im deutschen kollektiven Gedächtnis. Obwohl es Orte des Geschehens – oder des Grauens – auch vor der Haustür gibt, wird der Krieg im Osten meistens als „ganz normaler Krieg“ vorgestellt, einem Krieg, in dem „halt Menschen sterben“. Dem war nicht so – von 27 Millionen sowjetischen Todesopfern waren die meisten Zivilisten. 

Hebertshausen, die Kugelfangmauer

Diese Lücke im öffentlichen Gedächtnis wird noch größer, wenn man den alternativen Weg der Erinnerung kennt – nämlich den ostdeutschen. Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront waren hier ein wichtiges, wenn nicht gar zentrales Thema. Zu keiner Zeit konnte hier ein Mythos von der „sauberen Wehrmacht“ entwickelt werden, auf der offiziellen Ebene gehörte die Vermittlung des Wissens über die Untaten der Deutschen zur Leitlinie des SED-Staates, dessen Führung selbst früher den NS-Repressionen ausgesetzt war. Angesichts dieses Wissens zweifelten nicht Wenige an der Möglichkeit einer Aussöhnung mit den Sowjetbürgern. So berichtete 1949 eine Deutsche mit der Ostfront-Erfahrung bei der Gesellschaft für deutsch-sowjetischen Freundschaft:

„Auch ich war an der Front stationiert, und als wir in ein Dorf kamen, entdeckten wir, dass Deutsche den Ort zwei Tage früher verlassen hatten. Vor ihrem Abzug schlossen sie die übrig gebliebenen Dorfbewohner – Alte, Behinderte und Kinder – in den Häusern und verbrannten sie. Ein kleines Kind, das aus den brennenden Fenstern herausgesprungen war, kniete vor dem Kommandeur und bat am Leben gelassen zu werden, und dieses Kind wurde zurück in das Haus geschubst. Ich fragte später sowjetische Zeugen, wer diese Truppen waren, ob es SS war, aber sie konnten nur sagen, dass es ordinäres Fussvolk der Wehrmacht war, das nach den Befehlen handelte.“[8]

Diese Erinnerung ist herausfordernd und schmerzhaft, weil sie kritische Fragen an sich selbst und seine Vorfahren erfordert. Was wissen wir über die deutschen Täter, die hier, wie einer von ihnen einmal formulierte, „ein Schützenfest hatten“?[9] Nur so viel, dass kaum einer von den SS-Angehörigen sich weigerte, die sowjetischen Kriegsgefangenen zu erschießen. Und auch, dass sie ihre Opfer vor und nach der Hinrichtung noch verhöhnt haben. 

Diese Schmerzhaftigkeit der Erinnerung ist der Grund, warum es mit der Einrichtung der Gedenkstätte an solchen Orten wie hier so lange dauerte. Heute ist immer noch die Mehrzahl der Grabanlagen für sowjetische Opfer und ZwangsarbeiterInnen – wie auch der Lagerreste – mit Gras bewachsen, verwildert, am Rande der Städte und der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Es waren zivilgesellschaftliche Initiativen, die gegen das Vergessen ankämpften und die Orte des Vergessens als Orte der politischen Gegenwartskritik, als Orte des Widerspruchs nutzten. In den 1990er Jahren konnte man zum ersten Mal die Stimmen der Opfer aus der ehemaligen Sowjetunion wahrnehmen, was zur Einsicht führte, dass die meisten Menschen zur Zwangsarbeit aus der Ukraine verschleppt wurden. Der Vermerk „besetzte Ostgebiete“ als Herkunftsort in den deutschen Arbeitsscheinen konnte von Historikern ausdifferenziert werden, auch wenn in der kollektiven Wahrnehmung eben vor allem Russland weiterhin als Referenz für den Krieg, seine Opfer und Sieger, blieb. 

Einer der Zeugen für die lange Verdrängung der sowjetischen Opfer war der einzige uns bekannte Überlebende Moisej Temkin, von dem bereits die Rede war. Sein Sohn Weniamin, der im Mai 2014 zur Eröffnung dieses Gedenkortes kam, sagte in seiner Rede: „Wenn er (der Vater, KM) doch noch leben würde! Er hat immer von dieser Minute geträumt, in der man zu seinen Ehren hier, auf diesem Schießplatz im ehemaligen KZ Dachau Reden hält, eine Ausstellung, eine Gedenkstätte einrichtet.“[10]

Der Wunsch der Überlebenden nach Anerkennung des Leidens, des Opfers, nach einer Entschädigung für die Ausbeutung durch Zwangsarbeit blieb sehr lange unerhört. Erst in den 2000er Jahren begannen die Auszahlungen an die noch lebenden Zwangsarbeiter – bei den sowjetischen Kriegsgefangenen dauerte es bis 2015, bis man sich dazu entschloss. diese Gruppe öffentlich anzuerkennen. 

Das Team des Fördervereins Dachau und der KZ-Gedenkstätte Dachau leistete Großes für die Anerkennung und die wissenschaftliche Aufarbeitung der Biografien der Opfer – und allein die zehn rekonstruierten Lebenswege –  wie der von Pavel Ermoschenko – geben uns einen Eindruck von einem rassenideologischen Krieg, der vor allem Ukrainer, Russen und Belarussen mit äußerster Härte traf – und für die Juden die absolute Vernichtung bedeutete. 

Noch etwas Anderes als Anerkennung wünschten sich die Überlebende: dass es nie wieder zu einem Krieg kommen darf. Wir als Nachkommen, – haben sie uns in Gesprächen immer wieder auf den Weg gegeben, – hätten dafür zu sorgen, dass Frieden herrscht. Wir haben sie enttäuscht. Jetzt herrscht ein Krieg in Europa, den Russland mit verbrecherischen Mitteln gegen die Ukraine führt. Viele ukrainische Kriegs-Überlebende sind durch russische Bombenangriffe gestorben, wie Boris Romantschenko, ein KZ-Überlebender und der Vorsitzende des internationalen Komitees Buchenwald Mittelbau-Dora, der in Charkiv getötet wurde.[11] Boris Zabarko, ein Holocaust-Überlebende aus Kiew, der heute hier ist, konnte aus Kiew fliehen und kann über die Situation besser selbst berichten.  Unter uns sind heute sowohl Kriegsveteranen und Überlebende, als auch Menschen mit einer aktuellen tragischen Kriegserfahrung. Damit Nie Wieder nicht zu einer hohlen Redefloskel verkommt, müssen wir ihnen zuhören und nie wieder… wegsehen.

Heute, vor 81 Jahren, begann der Vernichtungskrieg Deutschlands gegen die Sowjetunion. Sein zentrales Merkmal war, dass vom ersten Tag Juden und Kommunisten zu Hunderten und Tausenden ermordet wurden. Der Hass und die Entmenschlichung waren bestimmend für das Handeln der Deutschen im Osten. 

Die Gedenkstätte Hebertshausen kann uns daran erinnern, dass sich diese Verbrechen nicht weit weg im Osten ergeben haben, sondern auch direkt vor der eigenen Haustür und vor aller Augen begangen wurden. Gerade in solchen Orten wie Hebertshausen liegt das Potential, das Wissen zu vermitteln, wann, wie und warum es zur kollektiven Radikalisierung unmenschlicher Handlungen und Gewalttaten kommt. Die deutschen Verbrechen sind uns eine Verpflichtung, heute niemals gleichgültig gegenüber den Opfern von Krieg, Mord und Vertreibung zu sein. Deshalb gilt heute unsere Solidarität den Menschen in der Ukraine. 


[1] Seine Kurzbiografie siehe: Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Göttingen 2020, S.187. (Vorbereitet von Tatiana Szekely)

[2] Riedel, Dirk: Der Vernichtungskrieg in den Gefangenenlagern der Wehrmacht. In: Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Göttingen 2020, S. 22.

[3] siehe ein Auszug aus dem Notizheft, in dem er diese Erinnerung niederschrieb: Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Göttingen 2020, S. 194

[4] Seine Kurzbio siehe hier: Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Göttingen 2020, S. 191.

[5] Hitler am 17. Oktober 1741.

[6] Zu Korjukivka siehe ein Sonderkapitel in: Davies, Franziska, Makhotina, Katja: Offene Wunden Osteuropas. Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs. Darmstadt 2022. 

[7] http://www.muenchner-leerstellen.de/ueber-das-projekt/vergessene-lager-verschwindende-stimmen

[8] Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft, über die Russen und über uns, s.65, zitiert bei: Morina, Christina: Legacies of Stalingrad. Remembering the Eastern Front in Germany since 1945. Cambdridge 2011, p.44.

[9] Riedle, Andrea: Prägungen und Verhaltensmuster. In: Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Göttingen 2020, s. 91.

[10] Deutsch, Anja / Schwenke, Kerstin:  Der lange Weg zur Gestaltung des Erinnerungsortes. in: Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS-Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Göttingen 2020. S. 115.

[11] https://www.maximilian-kolbe-werk.de/unsere-arbeit/erinnern/nachruf-boris-romantschenko

[12] https://www.belltower.news/holocaustforschung-in-der-ukraine-man-kann-nicht-die-haende-in-den-schoss-legen-133249/

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