
Vortrag von Dr. Ekaterina Makhotina am 21.06.2021 in Regensburg, anlässlich des aufkommenden 80. Jahrestags des deutschen Vernichtungskriegs gegen die Sowjetunion – 22.06.1941.
Der 22. Juni, der Tag, an dem die Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, hat sich tief ins Gedächtnis der Menschen in Belarus, Russland und der Ukraine eingeprägt. Liest man Erinnerungen der Kriegsteilnehmer und spricht man mit den Zeitzeugen – alle erinnern sich an diesen Tag – an den „sonnigen, warmen Sommertag“, an dem sie zur Mittagszeit vom Überfall „aus dem Radio“ erfuhren.
Bis heute erinnern sich Menschen an den ersten Artilleriebeschuss und an die Bomben, die bereits am 22. Juni in Minsk, Kiew, Smolensk, Kaunas und anderen Städten einschlugen; sie erinnern sich an den Tag, weil es der Tag war, an dem sie ihren Vater, Mann, Sohn oder Bruder zum letzten Mal lebend gesehen haben – zehn Millionen Männer wurden am nächsten Tag an die Front eingezogen. Dieser Tag bedeutete für Bürger der Sowjetunion einen tiefen Schnitt, der ihr Leben in davor und in danach teilte.
Diesen Krieg plante die NS-Führung Deutschlands als einen präzendenzlosen Raub- und Vernichtungskrieg, bei dem der Tod von Millionen Menschen im Voraus einkalkuliert war. In den rassenideologischen Überlegungen wurde ganzen Bevölkerungsgruppen das Recht auf das Leben abgesprochen. Für Hitler war der Raum im Osten „wüst und leer“, die Bevölkerung sollte kolonisiert und ausgebeutet werden. Die maximale Ausnutzung der besetzten Gebiete, Vertreibung und Vernichtung der Menschen war ein Teil dieser Lebensraumpolitik. Die radikalen Beutephantasien und der Kampf gegen die „Todfeinde“ – Juden und Bolschewisten – kamen im „Unternehmen Barbarossa“ zusammen. Das macht den Vernichtungskrieg zum integralen Teil des Nationalsozialismus.
Die Militärführung, geleitet von enormen Überlegenheitsgefühl, unterstützte den Weltanschauungskrieg und machte sich die Planungen Hitlers sich zu eigen. So gab Erich Hoepner, Befehlshaber der Panzergruppe 4 im Mai 1941 zur bevorstehenden Kriegsführung im Osten bekannt:
„Der Krieg gegen Russland ist ein wesentlicher Abschnitt im Daseinskampf des deutschen Volkes. Er sit der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asitatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Russlands zum Ziel haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden. Jede Kampfhandlung muss in Anlage zur erbarmungslosen, völligen Vernichtung des Feindes geleitet sein.“
Bereits beim Angriff auf die Sowjetunion zeigte sich eine enge Verbindung materieller und militärstrategischen Interessen mit Rassismus (Slawenhass), Antisemitismus und Antikommunismus. Nach dem Krieg gegen Polen war die Hemmschwelle für eine radikale Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik stark gesunken.[1] Nun gaben die Anweisungen wie Kriegsgerichtsbarkeitserlass und der sog. Kommissarbefehl den deutschen Soldaten im Vorfeld und unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie mit einer bis dahin ungesehenen Härte im Osten durchgreifen sollen. Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass stellte einen Freibrief für den ideologischen Vernichtungskrieg dar. Es entrechtete die Einheimischen und gab den deutschen Soldaten die Sicherheit, dass deren Taten – Plünderung, Vergewaltigung und Mord an den Zivilisten – nicht geahndet werden.
Durch den Kommissarbefehl wurde der Mord nicht nur an Politoffizieren, sondern generell an Kommunisten und jenen, die als solche galten zur Kriegstaktik. Die Absicht war, durch die Massenmorde an den Funktionsträgern das sowjetische System möglich schnell zum Zusammenbruch zu bringen. In der Praxis lief es auf Erschiessung jüdischer Männer im Spätsommer 1941 hinaus.
Was war dieser Krieg für die Bürger der Sowjetunion? Es war zuerst und vor allem eine extrem harte Zeit unter deutscher Besatzung. Die Verbindung der Blitzkriegsführung mit extremer Ausbeutung spiegelt sich in der Spezifik der Besatzungsherrschaft wider. Etwa 65 Millionen Bürger erlebten die deutsche Besatzung, d.h. jeder dritte Bürger der UdSSR. Da die meisten wehrfähige Männer entweder in die Armee eingezogen oder als Facharbeiter und Staatsamtträger evakuiert wurden, bestand die besetzte Gesellschaft mehrheitlich aus Frauen, Kindern und Alten. In diesen Menschen sah die deutsche Führung ausschließlich ein „Seuchen- und Ernährungsproblem“ – wenn sie sich nicht als Arbeitssklaven ausbeuten ließen, waren sie von der Versorgung ausgenommen. Der Staatssekretär im Reichministerium für Ernährung und Landwirtschaft, Herbert Backe, erarbeitete noch vor dem Kriegsbeginn einen Backe- oder Hunger-Plan. In der Notiz der Besprechung über den Plan Barbarossa hiess es: „Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.“[2]
Die Versorgung der Einheimischen war nicht vorgesehen. Sollten besetzte Gebiete „ohne Bedeutung für die großdeutsche Kriegswirtschaft“ sein, waren die von der Versorgung auszuschließen und ihre Bewohner dem Hungertod auszuliefern.[3] Man ließ Menschen v.a. in den Städten buchstäblich am Hunger sterben. Klar definierte Bevölkerungsgruppen wurden sofort vernichtet: Juden, Parteiamtsträger, psychisch Kranke und Behinderte, Sinti und Roma sowie „Partisanen“. Die Gewalt gegen letztere wurde legitimiert durch die Prävention des vermeintlichen Widerstands: und als „Partisanenhelfer“ wurden während der sog. „Sicherung“ der Gebiete auch Frauen und Kinder zu Tausenden gequält und ermordet. Auf Widerstand wurde mit Massenmord reagiert, die Tötungsquote erreichte 1 (deutsche) zu 100 (Geiseln). Der flächendeckende hemmungsloser Terror in den Partisanengebieten kostete etwa halber Million Menschen das Leben, v.a. in Belarus und im westlichen Teil Russlands. Die Gewalt hatte auch hier die rassistische Grundstruktur. Die „Banden“ – so hiess es in der NS-Sprache – sah man dominiert von ethnischen Russen und Juden, also als rassisch minderwertige Menschen.
Auch die Vernichtung sowjetischer Kriegsgefangene gehört zu diesem Verbrechenskonzept. Noch vor dem Krieg erließ die NS-Führung Rahmenerlässe, die völkerrechtliche Normen außer Kraft setzten. Von Beginn an erschossen viele Einheiten der Heeresgruppe Mitte sowjetische Soldaten, die sich ergeben oder überlaufen wollten. Ein deutscher Soldat hielt es in seinem Tagebuch fest: „Viele Erschossene, die ich liegen sah, lagen mit erhobenen Händen da und ohne Waffen und sogar ohne Koppel. Mindestens hundert sah ich so liegen. […] Man hat auch Verwundete erschossen.“[4] Vor allem Juden, asiatisch aussehende Rotarmisten und Frauen wurden sofort erschossen. „Frauen in Uniform sind zu erschiessen“, diese Anweisung gab der Oberbefehlshaber der 4. Armee, von Kluge am 29. Juni 1941.[5] Die Rotarmistinnen zogen besonderen Hass auf sich – sie wurden als „Flintenweiber“ stigmatisiert, die es zu vernichten galt.
Die Tatsache, dass die gefangen genommene Soldaten nicht an die Wehrmachtsauskunftstelle gemeldet wurden, verdeutlicht, dass die überdurchschnittliche Sterblichkeit der Gefangenen ein Teil der Rechnung war. In den Lagern des deutschen Operationsgebietes hatten die Angehörige der Roten Armee zu verhungern. Von der Gesamtzahl 5,7 Millionen sowjetischer Kriegsgefangene sind drei Millionen an Hunger und Krankheiten gestorben. Das gilt als größtes Verbrechen der Wehrmacht.
Die sowjetischen Großstädte wurden gezielt bombardiert, und man verschonte weder Zivilbevölkerung noch Bauten, die als Krankenhäuser ausgewiesen waren. Stalingrad, eine Großstadt an der Volga, wurde vom 23. August 1942 bis zum 14. September 1942 ununterbrochen bombardiert. Allein am ersten Tag des Bombardements, de 23. August, kamen ca. 30 Tausend Menschen ums Leben. Klawdija Dennissova erinnerte sich: „Ringsum brannte es, und er bombardierte gnadenlos. So machte er das: flog an, bombardierte eine Strasse, danach kam der Nächste. Und so ohne Ende, ohne Ende, wie am Fließband..:“[6] Die Brände, die überall in der Stadt waren, brachten Menschen zum Ersticken. Manchmal war es sehr schwierig, zur Wolga zu gelangen, um wenigstens ein bisschen Wasser zu trinken.
In Stalingrad mussten hundert Tausend Menschen evakuiert werden, ungefähr 70 Prozent waren Frauen, Kinder, alte Leute, Verwundete. Als die Evakuierung, beschoss die deutsche Artillerie durchgängig die Wolgafähren, auch die kleinen Passagierdampfer wurden ununterbrochen bombardiert, so dass sie beschädigt auf Grund liefen.
Die Tatsache, dass die deutsche Luftflotte Evakuierungsschiffe und -Züge mit den Zivilisten bombardierte, zeigt, dass es der Führung nicht um das Erobern, sondern um die Vernichtung ging.

Als zum Beispiel die Bahnhaltestelle Tichvin bei Leningrad am 14. Oktober 1941 bombardiert wurde, wurden drei Züge mit evakuierten Kindern und verletzten Rotarmisten zerstört. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt. Ein Güterzug transportierte in der Regel von 1500 bis 2500 Menschen. Die Überlebende Raissa Messer erinnerte sich: „Die schwerste Zeit der Evakuierung über Ladoga war die Winterzeit 1941-42. Mehrere mal begannen die Deutschen starken Artilleriebeschuss, als das Einsteigen in die Züge oder in die Autos im vollen Gängen war. Auf ein kleines Stück Boden, wo die Züge standen, fielen auch mal bis zu zwanzig Splitterbomben.“[7]
Die Belagerung Leningrads gilt als „größte demographische Katastrophe, die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit erleben musste“[8]. An Artilleriebeschüssen und Bombardierungen und vor allem an Hunger sollte die Millionenstadt an der Newa, das ehemalige St. Petersburg, vernichtet werden. Von Anfang an spielte Leningrad eine zentrale Rolle in den Kriegsplänen Hitlers, die Wiege des Bolschewismus sollte als erste russische Großstadt dem Erdboden gleich gemacht werden. Die Weisung, dass die Stadt nicht erobert, sondern abgeschlossen und durch Hunger und Artilleriebeschuss aus der Luft vernichtet werden muss, fiel im September 1941.[9] Eben dies macht das Leningrader Schicksal zum Sonderfall der Geschichte: die Belagerung der Stadt war nicht auf ihre Einnahme ausgerichtet. Sollte ein Kapitulationsangebot Leningrads erfolgen, so sollte es abgewiesen werden. Die städtische Bevölkerung musste verhungern, die entvölkerte Stadt – den Finnen übergeben werden. Davon, dass Leningrad auch ein Teil des rassenideologischen Weltanschauungskrieges war, zeugen Aufzeichnungen der deutschen Wehrmachtsgeneräle vor Leningrad. In Bezug auf die Zivilbevölkerung ist hier lediglich von der Sorge zu lesen, dass das Erschießen von aus der Stadt fliehenden Frauen, Kindern und wehrlosen alten Männern die Psyche der dort eingesetzten deutschen Soldaten traumatisieren würde. Auch die deutsche Öffentlichkeit wurde informiert; so triumphierte eine der Schlagzeilen: „Leningrad muss vernichtet werden!“ Die deutschen Kriegsführer ließen Leningrad eingekesselt, während die Wehrmacht weiter nach Moskau und Südrussland zog. Im Übrigen sollte Leningrad kein Einzelfall bleiben: Auch für Moskau und Stalingrad plante Hitler, die Städte zu zerstören und ihre Bevölkerung durch Hunger und Artillerie zu dezimieren.
Etwa 1,2 Millionen Leningrader fielen der genozidalen Hunger-Politik der deutschen Kriegsführung zum Opfer.
Die meisten Leningrader führen während der Blockade Tagebücher und werden so zu Chronisten des Lebens und Sterbens in der eingekesselten Stadt. So der 59-jähriger Lazar‘ Mojzhes, der am 9. September 1941 notierte: „Die Ereignisse der letzten Tage in Leningrad sind so schwerwiegend, dass ich beschloss, darüber Tagebuch zu führen; vom ersten Tag des Krieges an waren die Luftalarme so häufig, dass man sich daran gewöhnte und kaum reagierte. Nur die Notwendigkeit sich zu verstecken, schränkt einen ein…“.

Die ersten Einträge zeugen noch von der Nervosität, Unruhe und Angst wegen der Luftangriffe. Doch ziemlich schnell werden die Tagebücher zu den Zeugnissen des Sterbens am Hunger. Alles dreht sich ums Essen, die Hungergefühle werden dokumentiert und lesen sich als Hilfeschreie. Lazar‘ Mojzhes notiert am 3. November 1941: „Alle Gespräche (in den Schlangen) konzentrieren sich auf 200 Gramm Brot, auf Kartoffel, mit einem Wort auf das Thema des Magens, welches jetzt über alles dominiert.“ Gedanken über die Zubereitung und die Einnahme des Essens und Schwärmereien über die Erhöhung der Rationen füllten viele Seiten der Tagebücher. Es ist paradox, dass das viele Beschreiben der Gerichte, der Rezepten und des Kochensprozesses für allgegenwärtigen Hunger steht: Die Leningrader verarbeiteten alles, was sie hatten, zu Nahrung: Lederwaren, Tapetenkleister, Holzleim, Hunde, Katzen und Tauben wurden gegessen.
Bei vielen Dokumenten musste man am Ende feststellen, dass der Mensch seinen eigenen Weg in den Tod notiert. Was zumeist als Chronik einer außergewöhnlichen, unruhigen Zeit beginnt, dann den schweren Alltag beschreibt, dann das, was am Abend gelesen wurde mit literarischen Reflexionen, (um sich vom Thema Essen abzulenken), verkommt zum Schluss zu abgebrochenen grammatisch falschen Sätzen, die lediglich den Tod der Angehörigen dokumentieren. Die Sätze in den letzten Einträgen sind ohne Punkt und Komma und verzichten auf Deklination. Irgendwann kommt der Satz, dass man sich den Tod herbeiwünscht, da der Hunger nicht mehr zu ertragen ist. „Das Leben ist nicht mehr zu ertragen“, schrieb Lazar‘ Mojzhes am 30. November. Laut Sterbeurkunde starb Lazar Mojzes am 30. Dezember 1941 an Dystrophie des III. Grades und wurde am 1. Januar 1942 auf dem Wolkow-Friedhof beigesetzt.
Eine weitere Struktur des Vernichtungskrieges war die genozidale Gewalt an jüdischen Bürgern der Sowjetunion. Die Erschießung der Juden – Holocaust durch Kugeln – begann in den ersten Tagen nach dem Überfall auf die Sowjetunion. In der verbrecherischen Ideologie galt es, dirch den Krieg gegen die Sowjets „mit Juden abzurechnen“. Dem Judenmord in der Sowjetunion – auf dem Gebiet der baltischen Republiken, von Belarus und der Ukraine – fielen über 3 Millionen Menschen zu Opfer.
In unserem Bildgedächtnis ist das Bild des Auschwitztores als Schlüsselbild für den Holocaust fest verankert. Im Gegensatz sind die Vernichtungsstätten auf damaligen sowjetischen Boden – heute in der Ukraine, Belarus, Litauen, Lettland, Estland oder im Süden und Westen Russlands viel weniger bekannt. Hier wurden Juden nicht ins Gas geschickt, sondern unmittelbar nach Einmarsch der Deutschen zusammengetrieben, in ein Ghetto gepfercht und schließlich getötet. Für die Vernichtung der sowjetischen Juden, zu Hunderttausenden in zahllosen Massakern in Wäldern, Schluchten, Ostsee-Dünen und auch mitten in den Städten erschossen, gibt es kein visuelles Gedächtnis, wie für den industriellen Massenmord in Auschwitz mit seinen Gleisanlagen: weil die Deutschen beim Rückzug entweder die Spuren ihrer Verbrechen ausradiert hatten, oder weil es kein Denkmal gibt, oder weil es den Tätern möglich war, ihre Verbrechen zu beschweigen und zu verdrängen. Es wird oft vergessen, dass der Holocaust ein integraler Teil des Vernichtungskrieges war und Terror gegen die Zivilbevölkerung und Ermordung der Juden einen zentralen Bestandteil der Blitzkriegsführung darstellten.
So zum Beispiel in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Sofort nach der Einnahme Kyivs durch die Wehrmacht am 19. September 1941 begannen die Misshandlung, Demütigung und Ermordung der jüdischen Bewohner. Diese Misshandlungen und Morde im öffentlichen Raum, im Wesentlichen von der SS unter Beteiligung lokaler Kollaborateure begangen, machten die Bewohner von Kyiv zu Ohren- und Augenzeugen der Verbrechen an den Juden. Alte Menschen wurden auf die offene Straße geschleift, wo sie „vor Hunger, Kälte und an der Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen“ starben.[i] – So heißt es in Schwarzbuch, einer Sammlung an Zeugenberichten, die vom Jüdischen Antifaschistischen Komitee herausgegeben und von den Schriftstelern Ilja Ehreburg und Vassiij Grossmann zusammengestellt wurde. In der Nähe von Kiew, in Babi Jar, führten die Deutschen ihre größte Mordaktion durch. Hier erschossen die deutschen Einheiten am 29. September 1941, etwa 33 Tausend Menschen, die meisten von ihnen – Juden.
Fast komplett vernichtet wurde das litauische Judentum – 96 %, 220 Tausend Menschen, davon den größten Teil fast 140 Tausend – bereits in den ersten fünf Monaten der deutschen Besatzung, von Ende Juni bis Ende November 1941. In Litauen, das flächenmässig etwa so groß ist wie Bayern, gab es 200 Stätten der Erschießung.
Mit welchem „Fleiß“ und „Organisiertheit“ der Massenmord vonstattenging, bezeugt der Bericht des Anführers des EK 3 Karl Jäger. Es ist eine akribische, skrupellose Tag-für-Tag-Auflistung aller in Litauen ermordeten Juden zum 1. Dezember 1941. Dieser Bericht gilt als eines der Schlüsseldokumente des Holocaust. Hinter den lakonischen Zeilen des „Jäger-Berichts“ stehen viele ergreifende Geschichten von Juden in Wilna, Paneriai, Rokiškis, in den Forts der Festung von Kaunas, allesamt Orten von Massenmorden.

Im Jägerbericht heißt es: 29.10.41, Kauen Fort IX.: 2007 Juden, 2920 Jüdinnen, 4237 Judenkinder („Säuberung des Gettos von überflüssigen Juden“)
Hier geht es um die sog. „Große Aktion“ am 29. Oktober 1941, als Deutsche und Litauer aus dem Kaunasser Ghetto nicht-arbeitsfähige – Kranke, Alten, Frauen und Kinder – „rausselektierten“ und zu Fuß zum Neunten Fort trieben. Von dieser Nacht, in der fast zehn Tausend Menschen ermordet wurden, sind erschütternde Zeugnisse erhalten geblieben, von Menschen, die sich im blutigen Chaos aus den Gruben retten konnten und es zurück ins Ghetto schafften. Es ist ein ungeheurer Kontrast, der sich auftut, zwischen der zahlvergessenen Bürokratie des Holocaust und seiner Individualisierung durch die Geschichte der Überlebenden.
Der Jäger-Bericht endet mit einem ungeheuer zynischen Satz: Litauen könne – mit Ausnahme der „wenigen Arbeitsjuden“ – als „judenfrei“ gemeldet werden.
Ein Teil der Arbeit von Arbeitsjuden war auch die „Spurenbeseitigung“ deutscher Verbrechen. Ab Herbst 1943 mussten sie aus den Massengräbern Leichen ausheben und verbrennen.
In Kaunas IX Fort (KZ-Lager im deutsch-besetzten Litauen) wurden 28 jüdische und sowjetische Gefangene zu dieser Arbeit gezwungen. An Füssen angekettet, mussten sie mit Schaufeln, Pickel und Hacken arbeiten. Alex Fajtelson, ein 19-jähriger Gefangener schrieb über seine Arbeit im Neunten Fort von Kaunas: „Ich wurde in die Gruppe eingeteilt, wo man die Leichen zur Feuerstelle brachte. Mit bloßen Händen musste ich die toten Körper von den „Untersuchern“ entgegennehmen, jeweils zwei auf die Tragbahren legen und sie zum Scheiterhaufen transportieren. […] Als ich mich mit der Tragbahre der beinahe ausgeräumten Grube näherte, blieb ich wie versteinert stehen. Die Toten waren angezogen und sahen aus wie Lebende, die vor Erschöpfung eingeschlafen waren. Es gibt keine Worte, um zu schildern und zu beschreiben, was ich hier erlebte. Ich wußte, dass sich unter ermordeten meine Eltern befanden. […]. Ein wenig später nahm mich Berl Gempl zur Seite und zeigte mir einen litauischen Pass: Alex, heute habe ich meinen Onkel verbrannt.“ Von der Fotografie im Paß blickte uns ein Jude entgegen. Ich zitterte am ganzen Körper. Meine Eltern mußten auch hier sein. Ich umarmte Berl und schwor, dass wir uns eines Tages rächen würden für all das unschuldig vergossene Blut.“
Ja, wir tragen eine Schuld! Wir tragen eine Schuld, weil wir den Mörder halfen, die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen!“[10] In den Erinnerungen von Alex begegnet uns neben der nüchternen, fast schon entfremdeten Beschreibung des Arbeitsvorgangs eine für die Überlebende untypische Emotion: Die Schuld.
Die Schuld jenen, die überlebten, vor jenen, die sterben mussten, sowie die Reue, die eigene Familie nicht retten zu können war sehr verbreitet und prägte das Nachkriegsleben vieler Menschen. Das Trauma blieb unverarbeitet, und man gab diesem Gefühl dadurch einen Ausdruck, dass man an den Friedhöfen private Denkmale für die Toten errichtete. Zumindest so konnte man die letzte Ehre den Toten erweisen. Alex Fajtelson, war einer von 64 Gefangenen, denen am 25. Dezember 1943 der Ausbruch aus der Festung gelang. Für ihn und seine Mitstreiter war die Flucht die einzige Überlebenschance – und eine Form des Widerstands gegen die deutschen Besatzer. Alex erreichte neben anderen 13 Geflüchteten Ghetto in Kaunas. Sie versteckten sich dort und schlossen sich dann den sowjetischen Partisaneneinheiten an. Der Bericht, den sie ablegten, erreichte über Moskau die ganze Welt und machte das Neunte Fort als Mordstätte weltweit bekannt.
Den jüdischen Überlebenden war das Motiv deren Widerstands heilig: gegen die eigene Vernichtung zu kämpfen war die Sache der Nationalen Ehre. Lieber stehend sterben, als knieend leben, so lautete die Devise der jüdischen Widerstandskämpfer. Abba Kovner appellierte an jüdische Häftlinge im Vilner Ghetto: Lasst uns nicht wie Schafe zur Schlachtbank gehen. […] Brüder! Es ist besser, als freie Kämpfer zu sterben, als von der Gnade der Mörder zu leben. Leistet Widerstand bis zum letzten Atemzug!“ Der ehrenhafte Tod ist also ein wichtiges Motiv – aber auf einer viel breiteren Ebene manifestierte der jüdische Widerstand in ultimativer Herausforderung, die Hoffnung nie zu verlieren, nie zu verzweifeln. Es kommt zum Ausdruck in vielen jüdischen Selbstzeugnissen – Lass die Lebenden nie die Hoffnung verlieren.[11] Und es ist das Hauptmotiv der Hymne der jüdischen Partisanen, die im Vilner Ghetto gedichtet wurde und in viele Sprachen übersetzt wurde: Zog nit keynmol, as du gejst dn letstn veg. Sag niemals, dass du den letzten Weg gehst.
Menschen auf den besetzten Gebieten waren für die deutsche Führung auch „Exportartikel“, die einer „gewinnbringenden Tätigkeit“ zugeführt werden sollte. Insgesamt wurden drei Millionen Zivilisten – meistens Frauen und Jugendliche ins Deutsche Reich verschleppt. Seit Sommer 1942 kann man von regelrechten Menschenjagden sprechen. Ein Bild davon gibt ein deutscher Bericht vom November 1942: „Männer und Frauen einschließlich Jugendlicher vom 15. Lebensjahr ab wurden auf der Straße, von den Märkten und aus Dorffestlichkeiten herausgegriffen und fortgeschafft. Die Einwohner halten sich deshalb ängstlich verborgen und vermeiden jeden Aufenthalt in der Öffentlichkeit. Zu der Anwendung der Prügelstrafe ist das Niederbrennen der Gehöfte bzw. ganzer Dörfer als Vergeltung für die Nichtbefolgung der an die Gemeinden ergangenen Aufforderungen zur Bereitstellung von Arbeitskräften getreten.“[12]
Ins Reich deportiert, wurden sie für die deutsche Kriegsindustrie, bei der Eisenbahn, in den Betrieben und in der Landwirtschaft eingesetzt. Es gab kaum ein Betrieb oder Firma in Deutschland, die keine Zwangsarbeiter beschäftigt hat. Die Arbeiter aus der Sowjetunion, die sog. „Ostarbeiter“ rangierten in der Rassenhierarchie ganz unten und wurden am schlechtesten behandelt. Die Menschen wurden ihrem Schicksal überlassen, weil man sie lediglich als aus dem Ostraum leicht zu ergänzendes Produktionsmittel betrachtet hat. Die notwendigsten Dinge wie Essen und Unterkunft waren ungenügend, schmutzig, es mangelte an ärztlicher Behandlung.
Den Frauen wurden ihre neugeborenen Kinder weg genommen, um die Produktion aufrecht zu erhalten. Ein Zeugnis davon geben uns die Kindergräber am Bonner Nordfriedhof. Hier befand sich bis zur Wiedervereinigung die Nationale Mahnstätte der Bundesrepublik, universell betitelt als „Gedenkstätte für alle Opfer des Krieges und der Gewalt“. Getrennt davon befinden sich viele sowjetische Gräber, von denen viele eben für die Kinder, die an der Unterernährung in der sog. Kinderpflegestätte in Alfter bei Bonn starben. Die Gleichgültigkeit, mit der die Ortsbauern und der Ortsbürgermeister den Tod der Kinder damals in Kauf genommen hatten, ist uns heute unvorstellbar. Dieser Aspekt öffnet uns aber eine ganze andere Dimension der Täterschaft. Die deutsche Gesellschaft war auch fernab der Frontlinie am rassenideologischen Krieg beteiligt: Durch die Auswahl, Ausbeutung und Ausgrenzung der „Ostarbeiter“, und schlicht durch das Wegsehen bei den Misshandlungen oder Mord. Die Opfer wurden in Massengräbern oft namenlos verscharrt, die Verantwortungsträger meistens unbescholten weitergelebt. Die Gräber, wie wir sie heute sehen, blieben in ihrem ursprünglichen Zustand, und es ist gesellschaftlichen, nicht-staatlichen Initiativen zu verdanken, dass sie langsam wahrgenommen werden.
Viele der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden schließlich zu letzten Opfern der NS-Gewalt: Sie starben kurz vor Befreiung an den Todesmärschen oder an Bombardements, weil ihnen der Zugang zu Luftschutzkellern verwehrt wurde. Da die Außenlager in den Innenstädten und nahe bei den Fabriken lagen, waren sie den Luftangriffen besonders stark ausgesetzt, sie erlebten das als ein Inferno.
Die Vernichtung wurde als Handlungskonzept abermals leitend, als die Besatzer ihren „Lebensraum“ wieder verließen. bereits bei den ersten Rückzügen hinterließ Wehrmacht tote Zonen. 1943 wurde die Verbrannte Erde zur Strategie. Laut Hitlers Befehl war ein unbrauchbares, unbewohnbares, wüstes Land zu hinterlassen. Dörfer wurden niedergebrannt, Industrieanlagen zerstört, Brücken gesprengt, Brunnen vergiftet, zivile Infrastruktur zerstört, Boden vermint. Ressourcen, Produkte und Menschen nahmen die Besatzer mit – noch in den letzten Kriegsmonaten mussten die verschleppten Menschen Zwangsarbeit für die deutsche Kriegsindustrie leisten.
Der belarussische Schriftsteller Ales Adamowitsch sammelte in den 1970er Jahren Interviews mit den Überlebenden und Augenzeugen der niedergebrannten Dörfern in Sowjetbelarus. Insgesamt vernichteten die Deutschen neun Tausend Dörfer, davon 627 mit den Einwohnern. Ales Adamowitsch lässt in seiner dokumentarischen Novelle (Ich aus dem Feuerdorf, 1979 / Stätten des Schweigens, 1985) Überlebende zum Wort kommen. So erzählt Nikolaj Ivanovich Repchik[13]: „Sie haben uns 1942 verbrannt, im Frühjahr. Es war die SS. Mit Totenköpfen…
[Es ist die SS-Sondereinheit Dirlewanger, die Nikolaj meint, – sie wurde von Himmler zur „Bandenbekämpfung“ bevollmächtigt.]
Sie kamen, umzingelten das Dorf, und jagten – die Kinder, die Jungen, die Erwachsenen und die Alten. Wenn sie die Hütte betreten, legen sich die Leute hin, und wer wegläuft, wird erschossen. Ochsen rennen, Kühe rennen, Schweine quieken, und das Dorf brennt. Es sind keine Menschen da, aber die Herde wird durch das Dorf getrieben, das Vieh wird weggetrieben.“
„Filtration“, „Expedition“, Aktion – solche euphemistischen Namen hatten die Zerstörungsoperationen. Die Gedenkstätte Chatyn erinnert im heutigen Belarus an diese Verbrechen: Der Vater, der den toten Sohn auf den Armen hält, in Bronze gegossen. Diesen Vater hat es gegeben. Das ist Josef Kaminski, einer von wenigen, der überlebte. Adamowitsch zitiert sein Zeugnis: „Die zum Tode verurteilten Menschen, darunter ich und Mitglieder meiner Familie, weinten heftig und schrien. Die Häscher öffneten die Scheunentür und begannen, die Bürger mit Maschinengewehren, Maschinenpistolen und anderen Waffen zu erschießen. Das Schießen war jedoch fast nicht zu hören, weil das Wehklagen der Menschen zu heftig war. Mit meinem 15 jährigen Sohn Adam befand ich mich neben der Wand, die Getöteten fielen auf mich, die noch lebenden Menschen warfen sich – einer Woge gleich – in die große Menge hinein, das Blut ergoss sich aus Verwundeten und Getöteten. Das brennende Dach stürzte herab, und das schreckliche, fürchterliche Geschrei verstärkte sich noch. Mir gelang es, unter den Leichen und verbrannten Menschen bis zum Tor zu kriechen. Im gleichen Augenblick jedoch schoss der Häscher auf mich mit seiner Maschinenpistole auf mich. Mein Sohn Adam war zuvor brennend auf irgendeine Weise aus der Scheune entkommen, etwa zehn Meter von der Scheune entfernt jedoch fiel er, durch Schüsse niedergestreckt hin.“[14]
Über die Gedenkstätte Chatyn schreibt Adamowitsch weiter: „…Der alte Mann hält den Jungen wie über die ganze Erde. So ein versteinerter und so ein weicher Körper des toten Jungen. Die Augen des alten Mannes bezeugen mit einem schwarzen Abgrund, was hier – in Chatyn – geschehen ist. Und sie fragen die ganze Welt: ist es wirklich wahr, was ist hier mit uns passiert ist, was uns angetan wurde, Leute? Menschen aus den Nachbardörfern und fernen Städten und Ländern, die neben dem vor Trauer und Wut versteinerten Vater mit dem Kind in seinen gebrechlichen Armen stehen bleiben, sehen die aschgrauen Schornsteine, die wie Trauerglocken klingen. Die hohen Schornsteine tragen die Namen der Familien, die von den Nazis ermordet wurden. 50 Jahre alt 42, 31, 17, 12, 3, 1, 1, 1… Kinder, Kinder, Kinder.
Diese Schornsteine stehen an der Stelle der ehemaligen Hütten und Höfen, sie erheben sich auf den Hügeln und sind so ewig, aber auch so erschreckend gegenwärtig, als würden sie die Tiefen, die Abgründe der menschlichen Seelen messen, der Menschen, die heute leben…“[15]
Dieser Krieg hat 27 Millionen Menschen in der Sowjetunion das Leben gekostet. In den betroffenen Gesellschaften wirkt der Schmerz, den der Krieg verursachte, bis heute nach. Es ist keine Metapher, sondern ein tatsächlicher psychischer und physischer Schmerz. Ich zitiere aus dem Brief von Valentina Egorovna Sinkevichiene, geboren 1935, die als Kind Opfer medizinischer Versuche wurde. Mit ihrer Mutter und zwei Schwestern war sie im KZ Kaunas Sehcster Fort und dann in Alytus. „Die Haft unserer Familien in nazistischen Lagern während des Zweiten Weltkrieges auf dem Gebiet Litauens ging nicht spurlos vorbei und hatte gravierende gesundheitliche Auswirkungen. Meine zwei Schwester und ich haben eine Behinderung zweiter Gruppe. Diese Jahre raubten uns die Kindheit, brachen die Psyche, haben Angst und Alpträume für das ganze Leben eingeflößt. Ich habe mich 1943 in Kaunas im sechsten Fort (KZ Nr. 336) mit dem epidemischen Fleckfieber angesteckt. Die „Prozeduren“-Versuche denen ich ausgesetzt war schufen beste Voraussetzungen dafür, dass der epidemische Fieber in meinem Organismus blieb und sich noch mal 1983 meldete – ich erkrankte an der Brill-Zinnser-Krankheit. Haben denn diese Versuche und Blut, das mir abgenommen wurde, ein Nutzen für die Wissenschaft und Gesellschaft gebracht? War es etwa umsonst? Wer entschädigt mich dafür? Es tut weh. Die KZ raubten mir die Lebensfreude – ich konnte nicht Mutter werden. Ein schweres psychisches Trauma blieb für mein ganzes Leben. Solche moralischen Verluste, menschliche Leiden, Misshandlungen, Demütigungen und physische Gewalt – kann man es je entschädigen?“

Diesen Brief verfasste Valentina 2010 an die Stiftung EVZ in der Hoffnung auf Entschädigung. Die Stiftung, die für die Auszahlungen an die ehem. KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter zuständig war, wurde erst unter Rot-Grünen Regierung 2000 gegründet. Reichlich spät bekamen Menschen aus den Nachfolgerstaaten der Sowjetunion eine Kompensation – die meisten von ihnen waren bereits gestorben. Das Vertagen der Debatten und Verschleppen der Entschädigung ist auch ein Teil der deutschen (offiziellen) Vergangenheitsaufarbeitung. Bis heute tun sich viele Firmen schwer daran, zuzugeben, dass sie Zwangsarbeiter beschäftigt hatten. Es ist die Erinnerung, die weh tut.
Es sind viele solche Briefe wie von Valentina, die deutsche Entschädigungsfonds erreicht hatten. Diese Geschichten waren bis in die 1990er Jahre unbekannt und sowohl hierzulande als auch in der Sowjetunion verschwiegen. Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen die ersten Überlebende aus der Ukraine, Russland und Belarus nach Deutschland, an die KZ-Gedenkstätten, und somit an Orte, an denen sie gelitten hatten. Sie erzählten ihre Geschichten oft zum ersten Mal, sie stellten sich ihrer traumatischen Erinnerung nicht nur um Kompensation zu erhalten, sondern oft auch um das Zeugnis abzulegen und das Stigma des Verräters, das sie in der Sowjetzeit hatten, loszuwerden.
Heute sind nur wenige Stimmen am Leben, die uns die authentischen Geschichten vom Leid, Kampf und Verlust erzählen können. Die Überlebenden wussten ganz genau, warum sie an den Krieg erinnern. Es ist die Erinnerung an ihre Familien, an ihre Eltern und Geschwistern, die gewaltsam umgekommen sind. Es ist also die gefühlte Pflicht, Zeugnis abzulegen für jene, die tot sind. Es ist die gefühlte Reue, dass man selbst überlebte, den anderen aber nicht retten konnte. Wir können die Erfahrung der Menschen, die den Krieg überlebt haben, nicht nachvollziehen. Ihre Geschichten sollten aber nicht vergessen werden.
Zum Schluss möchte ich die Rede des Bundespräsidenten Steinmeier aufgreifen, die er am vergangenen Freitag zum Gedenken an die Opfer des Vernichtungskrieges in Berlin-Karlshorst gehalten hat. Er sprach von diesem Krieg als einer mörderischen Barbarei und davon, dass die Erinnerung daran (noch) nicht in das deutsche kollektive Gedächtnis eingebrannt ist.
Tatsächlich bleiben sowjetische Opfer und die Orte der Vernichtung bis heute häufig Leerstelle in der schulischen Bildung, im öffentlichen Bewusstsein und in der Gedenkpolitik. Dass sich diese Lücke bis heute besteht, hängt mit der Nachkriegssituation, in der die Erzählungen der Deutschen als Opfer dominierten, und mit dem anti-kommunistischen Kalten-Krieg-Diskurs zusammen. Um nur ein Beispiel für die lange Nicht-Verfolgung der Täter anzuführen: Karl Jäger, der „Henker am litauischen Judentum“, dessen Bericht ich zitiert habe, führte bis zu seiner Verhaftung im Jahr 1959 ein unbehelligtes Leben – typisch für die Kriegsfunktionäre in Deutschland. Es gelang ihm nach dem Krieg unterzutauchen und in der Nähe von Heidelberg ein gut situiertes Leben zu führen. Als ihm 1959 in Ludwigsburg für den Massenmord an litauischen Juden der Prozess gemacht wurde, zeigte er weder Reue noch Schuldgefühle. Seine Unschuld beteuernd, nahm er sich in Haft das Leben. Der Anklage ungeachtet galt er in seiner Heimatsstadt Waldkirch als angesehener Bürger („er war einer von uns“), und der Freiburger Zeithistoriker Wolfram Wette, der zu dieser NS-Biografie arbeitete, wurde als Nestbeschmutzer beschimpft. Es wurde ein Schlussstrich gefordert noch bevor die Aufarbeitung begonnen hatte. Schließlich ist es vor vier Jahren einer lokalen gesellschaftlichen Initiative gelungen in Waldkirch ein Mahnmal für die ermordeten Juden Litauens durchzusetzen. Ich sehe darin ein Zeichen dafür, dass das Wissen-Wollen um die Opfer und die Täter auf der gesellschaftlichen Ebene größer wird und mit Leben gefüllt werden kann.
Es sind noch viele unbekannte Orte in Deutschland selbst, „vor unserer Haustür“, die mit dem Vernichtungskrieg in Verbindung stehen: Reste der Außenlager, Gräber sowjetischer Kriegsgefangener und Zwangsarbeiterinnen, ehemalige Gefängnisse und Sammellager. In Regensburg ist es das Lager am Hohen Kreuz. Viele der Gräberfelder sind als anonyme Massengräber stumme Zeugen der Gewalt, – sie sind schwer zu finden und vermitteln keine Informationen über die Täterschaft, die Umstände des Todes, oder die Herkunft der Opfer. Es liegt an uns, diese Orte aus ihrer heutigen Rolle eines Fremdkörpers herauszuholen, Menschenschicksale zu rekonstruieren und Zeichen des Gedenkens zu setzen. Es ist die Erinnerung die schwer ist, die weh tut. Umso wichtiger ist es, dass wir morgen, am 22. Juni, am Tag, an dem die Wehrmacht die Sowjetunion überfiel, die Möglichkeit haben, hier in Regensburg, am Gedenkstein Hohes Kreuz, den Millionen Opfern zu gedenken und ihnen zumindest dadurch unsere Empathie und Ehre zu erweisen.
[1] Parallelen zwischen 1939 und 1941 sind: von Anfang an übernahm die Wehrmacht Aufgaben der Verfolgung der Juden – deren Kennzeichnung, Registrierung und Entrechtung. Aber: die Herrschaft der Militärs dauerte in PL nur sechs Wochen, in der SU jedoch – Jahre. und: Die Verbrechen in PL bezeugten, dass es kaum des Antibolschewismus bedurfte, um Massenmorde zu begehen. Die Grundstrukturen der gewalttätigen Besatzung kristallisierten schon heraus, sie wurden jedoch radikaler im Krieg gg die SU.
[2] Aktenotiz vom 2. Mai 1941m in: IMT, Bd.31, S. 84.
[3] Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 47.
[4] Tagebuch Robert Rupp v. 1.7.1941, zitiert nach Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 775.
[5] zitiert nach Gerlach, Kalkulierte Morde, S. 777.
[6] Hellbeck, Stalingrader Protokolle, S. 134.
[7] Messer, R.: Na rel’sach, na vokzalach. Ocherk o rabote zh/d milicii vo vremja VOV. rukopis‘ (unveröff. Manuskript), zitiert bei Kantor, Vse nasche, https://magazines.gorky.media/zvezda/2019/1
[8] John Barber: Introduction. Leningrad’s Place in the History of Famine, in: Ders., Andrei Dzeniskevich (hg.): Life and Death in Besieged Leningrad. 1941-1944. London, S. 1-12, S.1.
[9] Ganzenmüller, Jörg: Hunger als Waffe. in Zeit. Geschichte 2/2011, online unter http://www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/02/Kriegsziele-Generalplan-Ost.
[10] Ebd., S.233-235.
[11] so Sonja Madejsker an Cesia Rosenberg 1943.
[12] Herbert, Der Zeichen bleibt, S. 10.
[13] https://www.litmir.me/br/?b=198366&p=7
[14] zitiert: Bernd Boll, Chatyn 1943, // Orte des Grauens. S. 24-25.
[15] https://wysotsky.com/0009/003.htm#26